Esther Slevogt betrachtet das Treiben auf Berlins Bühnen:
Zu den Arbeiten im Bergwerk Gesellschaft, derer das Gorki Theater sich insbesondere angenommen hat, gehört die Arbeit an Klischees, Zuschreibungen, gesellschaftlichen Formatierungen und Zurichtungen. Hier mal den Schlamm der Ideologien und schon leicht muffig gewordenen Herrschaftsdiskurse gründlich zu entfernen, tritt das Theater an vielen Fronten an. Das betrifft Fragen von Gender und kultureller Identität ebenso wie das Abschreiten der explosiven Front deutscher Erinnerungskultur. Hier ist in vorderster Linie natürlich die Regisseurin Yael Ronen zu nennen, deren Theaterarbeiten stets schnell mit den liebgewordenen Gewissheiten abrechnen. Aber es hat sich um die Leiterin des Studios R am Gorki, die Schriftstellerin Sascha Marianna Salzmann, lose auch eine neue Generation junger Juden in Deutschland versammelt, die nach neuen Diskursen sucht. Unter dem Motto „Desintegration“ hatte ein von Salzmann und dem Dichter Max Czollek vor einem Jahr veranstalteter Kongress zuerst den Versuch unternommen, sich von „Fremdkonstruktionen“ zu Juden in Deutschland nach 1945 zu distanzieren. In diesem Jahr geht es im November unter der Überschrift „Radikale Jüdische Kulturtage“ weiter. Aber schon in dieser Woche hat ein Abend von Tucké Royal Premiere, der ebenfalls in diesen Kontext gehört. „Mit Dolores habt ihr nicht gerechnet“ hat er sein „jüdisch-queeres Rachemusical“ überschrieben, dass ein wenig von Quentin Tarantinos „Inglorious Basterds“ inspiriert ist, aber die Schrillschraube noch etwas weiterdreht: und zwar an Hand der Geschichte eines Zwillingspaars, das im Warschauer Ghetto geboren und bald darauf getrennt wird. Während ein Zwilling nach Treblinka deportiert wird, landet der andere Zwilling in Nazi-Berlin und übt Rache. Grundlage des Stücks sind die Geschichten jüdisch-queerer Widerstandskämpfer (Gorki Theater: „Mit Dolores habt ihr nicht gerechnet“, Premiere: 26. 10., 29.30 Uhr. „Radikale Jüdische Kulturtage“, 2.–12. 11.).
Es ist eben Trick und Macht des Theaters, dass es Dinge im Spiel verhandeln kann, die wir im richtigen Leben kaum ertragen. Mit dem Spiel an sich befasst sich auch der neue Abend, den die Performancegruppe She She Pop mit dem Musikensemble Zeitkratzer entwickelt hat: Inspiriert vom Klassiker des niederländischen Kunsthistorikers Johan Huizinga „Homo Ludens“ treibt der Abend mit dem Titel „The Ocean is closed“ musikbegleitet auf Fragen nach den Grenzen von Geheimnis, Ordnung, Zeit, Raum und Kunst dem Geheimnis des Spiels entgegen. (HAU 1: 27., 28., 29. & 30. 10., 20 Uhr).
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