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: Déjà-vu in Nigeria

Der Staat ist im Begriff, Nigerias junge hoffnungsvolle Protestbewegung in Blut zu ertränken. Ein Aufschrei des Schriftstellers Wole Soyinka

Foto: reuters

Wole Soyinka,

86, ist Nigerias berühmtester Schriftsteller und einer der größten lebenden Vertreter der afrikanischen Literatur. Sein Werk dokumentiert die Geschichte Nigerias seit der Kolonialzeit; aus seinem Umfeld kommen viele historische Führungs­figuren der nigerianischen Demokratie­bewegung gegen Diktatur und Militärherrschaft. 1986 erhielt er den Literaturnobelpreis.

Als ich vor knapp über einer Woche aus dem Ausland zurückkehrte, erwartete mich ein außergewöhnĺiches Willkommensgeschenk. Es war eine Bewegung – mal zornig, mal mitreißend und ergreifend, manchmal schrill, sicherlich mit hohen Erwartungen, aber immer gefühlvoll, visionär, organisiert. Die Bewegung verlangte ein Ende der Brutalität staatlicher Sicherheitsorgane, vor allem der berüchtigten Polizeieinheit SARS. Natürlich stand SARS für parasitäres Regieren insgesamt.

Die Bewegung umfasste Anwälte, Feministen, Technokraten, Studenten, Prälaten, Industrielle, Künstler. Sie war jung, ihre Energie, ihre schöpferische Kraft strahlte durch die ganze Nation. Sie war vor allem ordentlich. Zuweilen spürte man ­Vibrationen wie ein Woodstock-Echo oder auch wie die Massenaufmärsche der Gelbwesten oder die Wellen von Solidarnośćoder zuletzt die geduldigen, stoischen Versammlungen von Mali.

Diese Jugend hat frisches Blut in müde Venen gepumpt. Was für ein Segen, in dieser Zeit am Leben zu sein und mitzuerleben, wie die Jugend endlich beginnt, ihre Zukunft in die Hand zu nehmen.

Aber – und waren wir hier nicht schon einmal? – plötzlich, über Nacht, veränderte sich alles. Die Staatssicherheitsdienste – wer genau, müssen wir erst noch herausfinden – karrten Schläger heran, um die Proteste aufzulösen. Die Videos sind da, glitzernde Konvois mit verdeckten Nummernschildern, die Schläger und Verbrecher einsammeln und dann ausspucken, um die friedlichen Proteste zu brechen. Die Söldner zündeten die Autos der Protestierenden an, mit Knüppeln und Macheten gingen sie auf die versammelten Jugendlichen los, sie stürmten mindestens ein Gefängnis und ließen die Insassen frei. Manche dieser Vandalen, wie wir inzwischen wissen, waren selbst Häftlinge, die man angeheuert hat. Die Opferzahlen stiegen erst sporadisch und gipfelten schließlich vergangene Nacht in der Tötung einer noch unbekannten Anzahl von Protestierenden in einem Stadtteil von Lagos namens Lekki.

Dieser teuflische Eingriff hat die Stimmung des Protestes abrupt und vernichtend verändert. Wut und Nihilismus fassen Fuß, zum ersten Mal. An die Stelle organisierter Militanz tritt rachsüchtiger Hass, der in alle Richtungen ausschlägt. Die Haupt­stadt Abu­ja ist an einigen Orten in Flammen aufgegangen.

Am 20. Oktober machte ich mich im Auto auf den Weg in meine Heimatstadt Abeokuta, um zu Hause zu sein, wenn die Spirale der Gewalt sich sinnlos in alle Richtungen dreht. Ich verhandelte meinen Weg durch acht oder neun Straßensperren der Protestierenden, bis ich umkehren musste. Es war ein einziges Déjà-vu: die Aufstände in der einstigen Westregion von Nigeria, der Widerstand gegen die Abacha-Diktatur. Doch durch meinen Reiseversuch konnte ich die Stimmung und die Verwandlung der Bewegung einschätzen. Ich war besser vorbereitet. Ich verschob meine Fahrt auf den nächsten Tag, also den Morgen des 21. Oktober.

Zwischenzeitlich, also in den darauffolgenden acht bis zehn Stunden, ist die Anspannung allerdings unvorstellbar geworden! Im Stadtteil Lekki von Lagos, wo die meisten Versammlungen stattgefunden hatten, eröffneten Soldaten das Feuer auf unbewaffnete Demonstranten, töteten und verletzten eine noch unbekannte Zahl. Eine dieser außergerichtlichen Tötungen hat die nigerianische Flagge im Blut Unschuldiger getränkt, und das nicht nur symbolisch. Das Video davon ist „viral“ gegangen, wie man so sagt. Ich habe mit Augenzeugen telefoniert. Einer davon, eine bekannte Person des öffentlichen Lebens, hat seine Erlebnisse im Fernsehen mitgeteilt. Die Regierung sollte aufhören, mit ihren bockigen Dementis die Nation für dumm zu verkaufen.

Um 6 Uhr früh an diesem Morgen also brach ich erneut nach Abeokuta auf. Wieder musste ich meinen Weg durch Straßensperren aushandeln, diesmal 12 bis 15 davon, alle von unbarmherziger Wut beherrscht. Es war ein schonungsloser Kon­trast zum Protestgefühl der „gemeinsamen Familie“ früherer Tage. Die inhärente Schönheit des Gemeinschaftsgefühls und der Solidarität war wie weggeblasen. Am hartnäckigsten waren die Protestierenden kurz vor dem Sitz der Landesregierung von Lagos. Sie zwangen mich schießlich nur zu einem Übergangsritus: Ich musste aus meinem Auto steigen und eine Ansprache halten. Das tat ich. Sie wussten ja nicht, was ich im Kopf hatte: „Das ist nicht real. Das ist ‚Zurück zu Abacha‘, ein grotesker Replay.“

Diese Jugend hat frisches Blut in müde Venen gepumpt. Was für ein Segen, in dieser Zeit am Leben zu sein

Die Regierung muss unbedingt begreifen, dass im Dämonenalbum der Protestierenden jetzt die Armee den Platz von SARS eingenommen hat. Soweit ich bislang feststellen konnte, hat der Gouverneur von Lagos die Armee nicht eingeladen, er beschwerte sich nicht über einen Zusammenbruch von Recht und Ordnung. Dennoch agierte der Zentralstaat autoritär und hat dem Gemeinschaftsgeist eine kaum heilbare Wunde zugefügt. Muss ich hinzufügen, dass ich bei der Ankunft in meiner Heimatstadt Abeokuta erneut eine Straßensperre passieren musste? Sicherlich werden weitere errichtet, während ich dies schreibe.

Die Gouverneure im ganzen Land müssen eines sofort machen: den Abzug der Soldaten fordern. Beruft Bürgerversammlungen ein. Ganztägige Ausgangssperren sind keine Lösung. Übernehmt die Sicherheit eurer Bürger. Organisiert lokale Ordnungskräfte gegen die Infiltration von Hooligans. Um Heilung einzuleiten – dürfen wir davon ausgehen, dass dies gewünscht ist? –, muss die Armee sich entschuldigen. Die Fakten sind unstrittig. Ihr, das Militär, habt das Feuer auf unbewaffnete Zivilisten eröffnet. Es muss gesichert sein, dass solche Irrungen nicht wieder vorkommen. Dann kann es einen sinnvollen, lang überfälligen Dialog der Regierenden und ihrer Sicherheitskräfte mit der Gesellschaft geben. Nicht diktieren. Dialog!​ Abeokuta, 21. Oktober 2020, 11 Uhr

Übersetzung: Dominic Johnson