Essay Neues Mediengesetz: Das ungarische Desaster
Das neue Mediengesetz ist nur die Spitze einer Entwicklung: Ungarns Regierungschef Viktor Orbán ist weit vorangekommen bei seinem autoritären Umbau.
I ch hasse es, diesen Artikel zu schreiben. Weil ich mich den alarmierenden autoritären Entwicklungen in meinem Land entgegenstelle und für die Wiederherstellung der Bürgerrechte plädiere, könnte ich als jemand erscheinen, der ich definitiv nicht bin: jemand, der glaubt, dass die liberale Demokratie in ihrer europäischen Ausprägung des 21. Jahrhunderts eine politische Ordnung ist, die unreformiert am Leben erhalten werden sollte.
Niemand wünscht sich diese Welt zurück, in der Chaos, Armut, Korruption, Kriecherei, Bestechlichkeit, Schacher, Verachtung der Unterschichten, Ungleichheit und Heuchelei anfingen sich auszubreiten, und das in dem legendären Jahr aller unserer Hoffnungen - 1989. Als einer der Gründungsväter der ungarischen Republik bin ich alles andere als stolz. Im Gegenteil.
Auch will ich nicht im Namen eines wolkigen Europäertums im Namen von Sarkozy, Berlusconi, Bossi, Geert Wilders und Horst-"Multikulti ist tot"-Seehofer sprechen. Nicht viele Menschen würden Kritik vonseiten der EU gutheißen, mit ihrer idiotischen Politik unmöglich niedriger Defizitvorgaben, strenger Sparmaßnahmen, Kürzungen im öffentlichen Sektor und einem allgemeinen Sozialabbau - eine Politik, die den ärmeren und schwächeren Mitgliedstaaten riesige Probleme bereitet.
G. M. TAMÁS ist ein ungarischer Philosoph. Er wurde 1948 in Kolozsvár/Klausenburg (Siebenbürgen, Rumänien) geboren. 1978 emigrierte er nach Ungarn, wo er als Dissident mit Berufsverbot belegt war. Er war Mitglied der demokratischen Opposition und bis 1994 liberaler Abgeordneter. Heute ist er Vorsitzender der Partei "Grüne Linke Ungarn" (Zöld Baloldal), einer linksradikalen Kleinpartei.
Die ungarische Geschichte ist ein lehrreiches und warnendes Beispiel, das zeigt, wie zerbrechlich die europäischen bürgerlichen Demokratien in diesen wirren und dekadenten Zeiten geworden sind. Dort, wo soziale Solidarität und der Zusammenhalt aufgrund von Gerechtigkeit fehlen, kann von den Bürgern nur schwerlich erwartet werden, dass sie liberale Institutionen, Checks and Balances und Gewaltenteilung verteidigen.
Ihre Mehrheit ist gewaltig
Seit April 2010, als die ungarische Rechte eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erreichte, und vor allem nach den Kommunalwahlen im September (die Rechte bekam 93 Prozent in den Dörfern und Städten und stellt jetzt die Mehrheit in allen Regierungsbezirken) wurden fieberhaft Gesetze verabschiedet, die Ungarn für immer verändern könnten.
Zunächst verurteilte das Parlament in einem feierlichen Akt den Vertrag von Trianon von 1920 und stellte Angehörigen der ungarischen Minderheit in den Nachbarstaaten die ungarische Staatsbürgerschaft in Aussicht. Sodann wurden alle staatlichen Institutionen und öffentlichen Gebäude angewiesen, ihre Wände mit dem grundsätzlichen Bekenntnis des neuen Regimes zu schmücken - der Erklärung zu einer Nationalen Kooperation (das Regime nennt sich offiziell System "Nationaler Kooperation", und die Regierung ist eine Regierung der Nationalen Einheit).
Weiterhin wurden die Wahlgesetze geändert, um es kleinen Parteien zu erschweren, ins Parlament zu gelangen. Außerdem wurde das Verfassungsgericht kastriert. Zu guter Letzt wurden die Spitzenposten bei der Generalstaatsanwaltschaft für neun Jahre, des Rechnungshofes sowie der lokalen Rechtsorgane mit Politikern des rechten Flügels besetzt. Die Geheimdienste wurden umstrukturiert und ein neues Antiterrorismuszentrum unter Leitung von Viktor Orbáns früherem persönlichen Leibwächter geschaffen.
Die Regierung hat das Führungspersonal in allen staatlichen Behörden ausgetauscht - vor allem bei der Polizei, den Steuer- und Zollbehörden und in der Armee. Sie hat ein Gesetz verabschieden lassen, wonach alle Staatsbediensteten ohne Begründung entlassen bzw. Nachfolger ohne die erforderliche Qualifikation eingestellt werden können. Gegen frühere Funktionäre - allesamt Sozialisten oder Liberale - wird wegen Korruption ermittelt, oder es sind Verfahren anhängig.
Neue Bildungsgesetze wurden verabschiedet oder sind in Vorbereitung. Sie bekräftigen Disziplin, machen die Prüfungen schwerer und geben Schuldirektoren größere Machtbefugnisse. Diese Maßnahmen zielen auf eine Trennung der Eliteschulen von anderen Bildungseinrichtungen und auf eine Verringerung der Zahl von Hochschulstudenten. Ein landesweiter nationaler Lehrplan für Geschichte und Geisteswissenschaften wird eingeführt.
Die nationale Pädagogik hört hier jedoch nicht auf: Soziale Unterstützung können nur noch diejenigen erhalten, die in "geordneten Verhältnissen" leben. Das ermöglicht es der kommunalen Verwaltung, die Unterstützung missliebiger Schichten und Minderheiten zu verweigern. Bei einigen Angestellten des öffentlichen Dienstes ist es dem Staat erlaubt, Nachforschungen über ihr "untadeliges Privatverhalten" inklusive ihrer Familien anzustellen. Kleine Diebstähle werden unabhängig vom materiellen Wert streng bestraft, auch wenn die Täter minderjährig sind. Bei der dritten Verfehlung kann eine besonders schwere Strafe verhängt werden. Das Ergebnis ist, dass der Staat bereits geschlossene Gefängnisse wieder öffnen musste.
Konservative Köpfe von akademischen Institutionen haben vor den Wahlen damit begonnen, weitreichende, politisch motivierte Säuberungen durchzuführen. Und diese werden unaufhörlich fortgesetzt. Zwei bedeutenden Forschungsinstitute, die zuvor vom Staat finanziert wurden - das 1956-Institut und das Institut für politische Geschichte - wurden die Gelder entzogen. Alle Universitäten sind fest in konservativer Hand. Theaterleiter sind durch traditionalistische Konservative ersetzt worden - die Operette tritt an die Stelle der Avantgarde. Alternative und freie Theater haben ihre finanzielle Unterstützung verloren.
Filme, Bücher, Zeitungen
Die Finanzierung der ungarischen Filmindustrie ist vollständig gestrichen worden. Als Nächstes, so wird gesagt, komme das Verlagswesen an die Reihe. All dem folgt das infame Mediengesetz, das in der internationalen Presse Gegenstand intensiver Berichterstattung war. Dieses Gesetz erlaubt der Regierung, neben einer offenen politischen Zensur von Inhalten, die Medien mit Strafen zu ruinieren, die von einer Medienaufsichtsbehörde willkürlich festgelegt werden. An der Spitze dieser Medienbehörde steht eine rechtsgerichtete Politikerin, die auf neun Jahre ernannt wurde und die die Macht hat, Radiofrequenzen zu vergeben und Inhalte im Internet zu zensieren.
Aber all das ist nichts im Vergleich zu dem, was ich als Positive Zensur bezeichne. Diese räumt dem Staat die Macht ein, Medien zu zwingen, Nachrichten oder Inhalte zu verbreiten, die "Angelegenheiten von nationaler Bedeutung" enthalten oder andernfalls mit Strafen belegt zu werden. Strafen in Millionenhöhe können über Medien verhängt werden, die die Gefühle von Minderheiten oder Mehrheiten verletzen. Die Medienbehörde selbst darf darüber richten. Der öffentliche Rundfunk wird zentralisiert. Nachrichten fürs öffentliche Radio und Fernsehen werden ausschließlich von einem neuen Zentrum aus verbreitet, das Teil der staatlichen Nachrichtenagentur ist, und von niemandem sonst. Die Chefs der öffentlichen Kanäle sind alle neu ernannt worden, es sind alles rechtsgerichtete Journalisten, die meisten kamen von rechten Talkradios und den rechten oder extremen Kabelsendern. Hunderte Journalisten im öffentlichen Rundfunk sind schon gefeuert worden, anderen ist dies in Aussicht gestellt.
Das Recht zu streiken ist extrem eingeschränkt worden. Die Verhandlungsrechte von Mediengewerkschaften sind offen ignoriert worden. Die Sozialgesetzgebung transferiert Geld von den Armen an die weiße und junge Mittelklasse. Eine einheitliche Steuer wird eingeführt, die die Reichsten bevorteilt, während die indirekten Konsumsteuern brutal angehoben werden.
Und das Land verhält sich ruhig.
Die Kritik des Mainstreams am System der nationalen Kooperation ist ineffektiv, denn sie wird als Unterstützung der vorherigen Regierung wahrgenommen - im Einzelnen der neokonservativen sozialen und ökonomischen Politik, die ganz tief und zu Recht unpopulär ist, verbunden mit einer liberalen Fassade, einem künstlichen Pluralismus und einer Toleranz, die von vielen als unwichtige und perverse Spiele der abgehobenen, städtischen Eliten erlebt wurde. Es gibt keine Trauer um die Demokratie, da fast niemand geglaubt hat, dass wir in einer Demokratie lebten. Justiz und Polizei haben nicht erst heute angefangen, unfair, ungerecht, brutal und ineffektiv zu sein.
Offene rassische Trennung
Die Orbán-Regierung war ganz außerordentlich erfolgreich darin, rechtsextreme, paramilitärische Gruppierungen zu spalten und zu zerschlagen, um damit einem aufkommenden einheimischen rassistischen und faschistischen Terrorismus Einhalt zu gebieten. Gewiss mit fragwürdigen Polizeistaatsmethoden, die aber natürlich in diesem Fall von den Liberalen nicht kritisiert wurden. Die Roma-Frage wird als ein Problem der Kriminalität behandelt, die rassische Trennung wird von der Rechten ganz offen propagiert, Integrationsprogramme sind eingestellt worden. Fragen der Rasse oder der Ethnizität sind aus den öffentlichen Diskussionen verschwunden, das noch verbliebene Mitte-links-Spektrum hat sich von diesem Thema verabschiedet, weil es hoffnungslos ist. "Antifaschismus ist ein Verbrechen", hat ein führender konservativer Kolumnist, Universitätslehrer und Redakteur einer angesehen Monatszeitschrift erklärt.
An diesem Punkt stehen wir heute. Es gibt keinen Weg zurück zu einer erfolglosen und unpopulären liberalen Ära. Eine Alternative zu einer neuen autoritären Ordnung ist derzeit nicht in Sicht.
Übersetzung aus dem Englischen: Barbara Oertel und Georg Baltissen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
Pistorius wird nicht SPD-Kanzlerkandidat
Boris Pistorius wählt Olaf Scholz