Essay Brexit: All mouth, no trousers
Die Brexit-Fanatiker ignorieren, dass Europa inzwischen zu Großbritannien gehört. Weil die Politik versagt, regt sich Widerstand gegen sie in der Gesellschaft.
Die neueste Brexit-Strategie der britischen Regierung – wonach Großbritannien mit der Europäischen Union eine Freihandelszone bilden soll, mit gemeinsamen Regeln – wurde innerhalb weniger Stunden von Rechtsexperten als Versuch enttarnt, in der Europäischen Union zu bleiben, indem man die Mitgliedschaft einfach anders nennt. Unabhängig davon, dass dieses Kalkül nach hinten losgegangen ist – es zeigt sich, worum es den Brexit-Fanatikern eigentlich geht: Sie wollen das Land zurück zu einer Billiglohnwirtschaft mit niedrigen Standards führen und außerdem den neuen EU-Regeln gegen Steuerflucht entgehen, die im März 2019 in Kraft treten sollen.
Die letzten zwei Jahre seit der Volksabstimmung vom 23. Juni 2016 waren vergeudete Zeit. Die Europäische Union hat transparent gehandelt, Positionspapiere veröffentlicht und geplante Schritte benannt. Die britische Regierung hat das Gegenteil getan, sie hat Fakten verschleiert und ihre Verantwortung gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit umgangen. Die meisten Abgeordneten haben nicht die geringste Ahnung von der Europäischen Union und wie sie funktioniert, und leider trifft das auch auf allzu viele Minister zu.
Öffentlichkeit ist gegen den Brexit
ist Professorin und ehemalige Direktorin des Zentrums für Europastudien an der Universität Leeds im Norden Englands.
Allerdings: Wenn die Rücktritte prominenter Brexit-Verfechter aus der Regierung irgendetwas bewirkt haben, dann das Aufrütteln einer normalerweise gleichgültigen Öffentlichkeit. Das und der Trump-Besuch an diesem Wochenende haben Anti-Brexit-Gruppen mobilisiert. Es herrscht Krisenstimmung: Die Premierministerin sucht jetzt die Unterstützung von Labour-Abgeordneten, um im Parlament gegen ihre eigenen Brexit-Rebellen bestehen zu können, aber schon ihre Tolerierung durch die nordirische Democratic Unionist Party hat einen Beigeschmack von Intrigen und Skandal. Das Eis wird dünn.
Großbritanniens Öffentlichkeit steht nicht hinter dem Brexit. Je mehr darüber bekannt wird, desto mehr Menschen fordern eine neue Volksabstimmung – ein „People’s Vote“. Die Petition dafür erhielt innerhalb weniger Tage 210.000 Unterschriften. Fast 80 Prozent der Menschen, die jünger als 25 sind, wollen in der Europäischen Union bleiben, außerdem viele ihrer Eltern und Großeltern. Ihre Kampagnen und EU-Flaggen erregen Aufsehen – und ärgern sowohl Minister als auch den Oppositionsführer Jeremy Corbyn, der sie von seinem großen Labour-Festival Ende Juni verbannte.
Vertrauen in Medien oder Politiker haben sie nicht. Denn Abgeordnete stellen allzu oft Fraktionstreue vor Vernunft. Und der neue Brexit-Minister Dominic Raab gilt, milde gesagt, als autoritär und ist ein Gegner der EU-Grundrechte.
Das neue Brexit-Gesetz, das alle nach Brüssel übertragenen Kompetenzen nach London zurückholt, erlaubt der Regierung, all diese Kompetenzen ohne weiteren Parlamentsbeschluss zu verändern. Deshalb fordern einige eine Gesamtreform des britischen Systems: Es braucht eine repräsentativere Volksvertretung und mehr Respekt für die verschiedenen Regionen des Vereinigten Königreichs.
Keine effektive Opposition
Der Mangel an Vertrauen erstreckt sich auch auf die Opposition. Großbritannien hat derzeit keine effektive Oppositionskraft, weil ihr Führer ebenfalls ein Befürworter des Brexits ist. Jeremy Corbyn gilt bestenfalls als Übergangspremier in Wartestellung, nicht als jemand mit einer langfristigen Zukunft, mit internationalem Standing oder europäischer Überzeugung.
Seine Reden gegen Kürzungen der Staatsausgaben mögen den Opfern der wirtschaftlichen Austerität gefallen, aber in seiner eigenen Partei verliert er an Rückhalt, insbesondere unter der überwiegenden Mehrheit der Labour-Mitglieder, die ein „People’s Vote“ zum Brexit fordern, weil die Labour-Abgeordneten im Parlament unter Fraktionszwang für den Brexit-Deal stimmen müssen. Sie trauen Corbyn nicht zu, Großbritannien in der Europäischen Union zu halten, sollte er denn die nächsten Wahlen gewinnen.
Boris Johnson, der zurückgetretene Außenminister, wird zwar weithin als Clown dargestellt, aber dies ist eine sorgfältig gepflegte Karikatur. Seine Ambition, Premierminister zu werden, ist ungebrochen. Zyniker glauben, dass er den Brexit nur oberflächlich unterstützt und lautstark die Seiten wechseln würde, wenn ihm das politisch nützte; manche denken sogar, dass sein letzter Spielzug genau dies zum Zweck hat.
Spekulationen über die Spielchen von Politikern sind unvermeidbar, aber sie sollten nicht verbergen, dass sich die öffentliche Meinung bewegt. Die Brexit-Lügen werden zunehmend durchschaut: Sie sind ein auf Sand gebautes Souveränitätsversprechen, das wenige wirklich verstehen, das aber viele Menschen ärmer und Großbritannien zerbrechlicher machen würde.
Und dann gibt es die Brexit-Achillesferse Irland, wo eine Rückkehr zu einem geteilten Irland – nach Jahren gesellschaftlicher Integration – auf Kosten der Menschen vollzogen würde.
Außerdem gibt es das undurchsichtige Feld der Beeinflussung aus dem Ausland, auch und gerade zugunsten des Brexits. Das Versprechen von Deals mit Donald Trumps USA anstelle der EU-Mitgliedschaft stößt auf viel Unbehagen. Auch Wladimir Putin traut niemand, der Nowitschok-Skandal empört die Leute selbst während der Fußballweltmeisterschaft.
Fast jede Woche gibt es irgendwo im Land Straßenfeste, Demonstrationen und Partys gegen den Brexit. Frauengruppen wie „Women4Europe“ sind dabei besonders aktiv und finden zunehmend Unterstützung von Abgeordneten – eine Leistung angesichts der Tatsache, dass Frauen in der Politik meist wenig Gehör finden. Sie sehen, welchen Schaden der Brexit im Alltag anrichtet und in den Familien – nicht nur, weil er oft Familien in ein Pro- und ein Anti-EU-Lager spaltet, sondern auch, weil sogar dort, wo es keine großen Meinungsverschiedenheiten gibt, Politik insgesamt diskreditiert worden ist. Wo Politik ein Schimpfwort ist, wird dieses Gefühl alsbald auf Politiker übertragen.
Stärker als politische Eitelkeiten
Allmählich sehen die Menschen, was die Europäische Union bedeutet. Wie die Väter der europäischen Integration es vorhersahen und wollten, schafft die Integration zwischenmenschliche Verbindungen, die stärker sind als politische Eitelkeiten und wirtschaftliche Spaltung. Gerade in Berlin weiß man das.
Die Ironie dabei ist, dass sich kaum noch jemand an die Berliner Luftbrücke und an den Marshallplan für Europa erinnert. Kaum noch jemand bedenkt, dass nicht Handelsabkommen die Staaten jenseits vergänglicher politischer Launen zusammenbinden, sondern geteilte Souveränität und ökonomische Integration. Aber genau das ist die Grundlage von Solidarität.
Auch in Großbritannien sind die Menschen misstrauisch gegenüber neuen Grenzen, neuen Spaltungen und Handelskriegen. Der Brexit ist nicht in trockenen Tüchern. Er ist unmöglich. In all der Kritik und der Verächtlichmachung von allem, wofür Europa steht, wird paradoxerweise immer deutlicher, dass es ein Teil der britischen Identität geworden ist.
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