: „Es war schlimm genug“
Wie ein Trauma lag das schwerste Zugunglück der DDR dreißig Jahre über dem Dorf Langenweddingen. Jetzt ermutigt ein Pfarrerehepaar die Leute zum Reden. Mit den Erinnerungen kehren die Gefühle zurück ■ Von Jens Rübsam
Die Fenster vom „Weißen Schwan“ sind weit aufgerissen. Die Bee Gees kreischen aus der Dorfkneipe hinaus in die laue Julinacht. Eine kleine Gruppe Menschen geht vorbei. Einer trägt einen Korb, ein anderer einen Eimer mit Blumen. Mittendrin Christina und Eberhard Vater, das Langenweddinger Pfarrerehepaar.
Ein Auto brettert über das Kopfsteinpflaster. Techno hallt nach. Hunde bellen. Die Sparkasse ist hell erleuchtet. Der kleine Menschenzug zieht schweigend weiter. Die Halberstädter Straße entlang, hinaus zum Langenweddinger Bahnhof. Der letzte Zug aus Richtung Magdeburg fährt ein. Es ist Viertel nach elf. Wenig später knipst eine Frau im Stellwerk das Licht aus. Schließt die Tür ab. Steigt in ihr Auto und fährt weg.
Christina Vater legt Blumen vor das holzverbretterte Bahnhofsgebäude. Ihr Mann gießt Wasser in ein Gurkenglas und stellt einen Margeritenstrauß hinein. Jemand zündet Kerzen an. Dann schweigen alle. Und dann singen sie „Im Dunkel unserer Nacht entzünde das Feuer, das niemehr verlöscht“. Anschließend sagt Pfarrer Vater: „Ich hoffe, daß hier viele Menschen vorbeikommen und sich erinnern.“
Bahnhof Langenweddingen, vor dreißig Jahren, am 6. Juli 1967. Um 7.51 Uhr wird Fahrdienstleiter Robert Benke der Personenzug 852 Magdeburg–Thale angemeldet. Ein Sonderzug mit 540 Reisenden, darunter über 50 Mädchen und Jungen, deren Eltern im Baustoffwerk Magdeburg arbeiten. Die Reise soll in den Harz gehen, ins Betriebsferienlager. Um 7.57 Uhr sieht der 63jährige Fahrdienstleiter die Rauchfahne der Lok. Es ist an der Zeit, die Schranken herunterzukurbeln. Noch 63 Sekunden. Mit der linken Hand kurbelt Benke das nördliche, mit der rechten Hand das südliche Schrankenpaar herunter. Der Schrankenbaum der Südost-Schranke verfängt sich in der Fernsprechleitung, die quer über den Bahnübergang verläuft. Durch mehrmaliges Aufundabbewegen versucht Benke, den Schrankenbaum freizubekommen. Noch ist der P852 200 Meter vom Bahnübergang entfernt. Er nähert sich mit 85 Stundenkilometern.
Auf der F 81 fährt Fritz Tacke- Unterberg mit seinem Minol- Tanklaster auf den Bahnübergang zu. Die halbgeschlossene Schranke, vermutete man später, muß er als Aufforderung verstanden haben, noch schnell durchzufahren.
Die Lok prallt auf das Führerhaus des Tanklastzuges. Der Tanklastzug wird einige Meter mitgeschleift. 15.000 Liter Leichtbenzin explodieren. Das brennende Benzin quillt in die ersten beiden Doppelstockwaggons. Die Flammen greifen über auf das Bahnhofsgebäude. Drei weitere Wagen geraten in Brand. 77 Menschen verbrennen, 44 sind Kinder. An den Folgen sterben weitere 17 Menschen: das schwerste Zugunglück der DDR.
Es gibt keine Gedenktafel, keinen Hinweis, nichts
Das Zentralkomitee der SED spricht den Familienangehörigen sein „tiefempfundenes Mitleid“ aus. Das Neue Deutschland titelt „Die Verletzten des schweren Verkehrsunglücks erhalten jegliche Fürsorge“. Ein Beileidstelegramm von Tito, eins von Leber, dem westdeutschen Verkehrsminister, eins vom Papst. Für den 11. Juli 1967, den Tag der Beerdigung, wird im Bezirk Magdeburg Volkstrauer angeordnet. Die Gebäude der staatlichen Organe und die Volkseigenen Betriebe flaggen Halbmast. Um 11 Uhr verharren Passanten schweigend auf den Straßen, Autofahrer halten an. Der Rundfunk überträgt die Trauerfeier vom Magdeburger Westfriedhof. Das ND schreibt: „Die bisherigen Untersuchungen haben ergeben, daß die unmittelbaren Ursachen des Zusammenstoßes vor allem in Pflichtverletzungen von Mitarbeitern des Bahnhofs Langenweddingen zu suchen sind. Seit dem 4. Juli 1967 wurde das Schließen der Schranken durch zu tief hängende Fernsprechleitungen der Deutschen Post wiederholt behindert. Entgegen den Dienstvorschriften der Reichsbahn haben die Verantwortlichen die Mängel weder im Prüfungsbuch für Schrankenanlagen eingetragen noch der zuständigen Signal- und Fernmeldemeisterei gemeldet.“ Die Schuldigen sind gefunden. Haftbefehle werden erlassen. Die Angehörigen der Opfer bekommen eine kostenlose Beerdigung, einen Grabstein und eine kleine Entschädigung, ein paar hundert Mark. Manche bekommen noch einen Kuraufenthalt. Dann wird nicht mehr gesprochen über das Zugunglück.
Auch die Langenweddinger tun es nicht. „Es war schlimm genug“, sagen sie immer wieder. Hans-Georg Gerlach, damals zwanzig und Brandschutzhelfer, hat mitgeholfen an der Unglücksstelle, wie viele Langenweddinger. Hat verbrannte Hände angefaßt und dann Fingerkuppen und Nägel in den eigenen gehalten. Helmut Bartels war einer der ersten am Bahnhof, fünf Minuten danach. Hat verbranntes Fleisch gerochen, hat die Kinder gesehen. Und eine Frau, die brennend aus dem Zug sprang. Hat Fritz Tacke-Unterberg, den Tanklastfahrer, gekannt. Den alten Mann, der bald in den Ruhestand gegangen wäre. Lange hat Helmut Bartels nicht darüber geredet. Erst jetzt redet er, wo es diese Ausstellung in der Sparkasse gibt, initiiert vom Pfarrerehepaar Vater.
„Langenweddingen hat lange getrauert“, sagt Inge Fricke mit Bestimmtheit und erinnert sich an jenen 6. Juli 1967. An die schwarzen Wolken überm Dorf und daran, daß sie dachte, es regne. Und wie sie mit ihrer Tochter ins Haus zurückging, um einen Regenschirm für den Weg zum Kindergarten zu holen. Aber noch einmal darüber sprechen? „Die Pioniere sind ja jedes Jahr im Juli auf den Magdeburger Friedhof gefahren.“ Simone Hagen steht mit ihren Schülern vor der Ausstellung. „Die Kinder wissen nichts über das Unglück. Es gibt ja keine Erinnerung im Ort.“ Viele ältere Langenweddinger würden das, was geschehen ist, lieber für sich behalten, als offen darüber zu sprechen.
Wie ein schwarzer Fleck liegt das Zugunglück über Langenweddingen. Wenn die Leute woanders gefragt werden, wo sie herkommen, sagen sie: „Wir kommen aus Magdeburg.“ Oder höchstens mal: „Wir kommen aus der Nähe von Magdeburg.“ Nur nicht erinnert werden an diesen Tag! Es gibt keine Gedenktafel im Ort, keinen Hinweis am Bahnhof, nichts. Karl- Heinz Daehre, Langenweddinger und CDU-Vorsitzender von Sachsen-Anhalt, weiß um die gängigen Erklärungen: „Ich könnte sagen, das hing mit den Verhältnissen zusammen. Für den Staat war es nicht interessant, dieses Unglücks zu gedenken.“ In Langenweddingen erzählte man sich lange, die zu tief hängende Telefonleitung über dem Bahnübergang sei von den „Freunden“ installiert worden. Die Russen für das Unglück verantwortlich machen?
Juli 1997, dreißig Jahre nach dem Unglück. Das Ehepaar Vater hat sich eingerichtet im Pfarrhaus am Kirchtor 25. Den Garten hinterm Pfarrhaus wieder hergerichtet. Einen Teich angelegt. Angefangen, die Kirche zu sanieren. Die Scheune als offenes Haus der Dorfjugend zur Verfügung gestellt. Man kann nicht nur über die Jugend schimpfen, man muß auf sie zugehen, haben sich die Vaters gesagt. Freilich, der Rückschlag kam im März. Die Scheune brannte ab. Brandstiftung.
Seit dreieieinhalb Jahren sind die Vaters jetzt in Langenweddingen, „und langsam“, sagt Christina Vater, „fängt die Mauer an zu bröckeln zwischen Kirchgemeinde und Dorfbewohnern“. Die Leute kommen wieder in die Kirche. Manche nutzen wieder den Weg über das Kirchengelände als Abkürzung ins Dorf. Und manche machen wieder einen Spaziergang hier. Viele Jahre war das anders. Warum? Darüber läßt sich spekulieren. An jenem 6. Juli 1967 war der Pfarrer Raschke im Urlaub – und kam nicht zurück. Der damalige Superintendent von Wanzleben, Gerhard Bäumer, sagt heute: „Ein Pfarrer wäre es seiner Gemeinde schuldig gewesen, zu kommen.“ Und: „Es bleibt dabei, wir haben Sachen, die wir hätten machen müssen, nicht gemacht.“ Eine Andacht am Abend nach dem Unglück – das war's, was die evangelische Kirchgemeinde leistete.
1993, als für Christina und Eberhard Vater feststand, daß sie dem Ruf nach Langenweddingen folgen würden, war ihnen klar: „Wir werden mit dem Zugunglück leben müssen.“ Und als sie in Langenweddingen angekommen waren, wurde ihnen deutlich, was trotz staatlicher Hilfe versäumt wurde: die psychologische Betreuung der Opfer und der Helfer. „Was Menschen in sich verschließen, verhärtet sich nur“, sagt Christina Vater. „Sie müssen reden, ihre Gefühle nicht abschotten.“
Lange hat ihn keiner mehr nach den Söhnen gefragt
Jetzt reden die Langenweddinger. Herr Bartels. Und Frau Fricke. Frau Hagen. Und ihre Schüler. Sie stehen in der Sparkasse vor den Tafeln, auf denen das Zugunglück dokumentiert ist. Herr Bartels erzählt, daß er Glück gehabt habe. Wäre er fünf Minuten früher mit seinem Trecker losgefahren, dann... Frau Fricke erzählt von ihrem Bruder im Westen, der mehr wissen wollte über das Unglück. Philipp Kahler aus der 6b erzählt von seinem Opa, der jetzt, da auch die Zeitung über das Unglück schrieb, zum ersten Mal von damals erzählt habe. Christina Vater steht abseits der Stellwände und hört zu. Freut sich, etwas angeschoben zu haben – zunächst gegen den Gemeindekirchenrat, der ihr davon abgeraten hatte.
Hannelore und Lothar Hermes sitzen in der Langenweddinger Kirche und hören das eigens komponierte Requiem. Hören die letzten Worte des Sprechers: „24 Stunden nach dem tragischen Verkehrsunfall ist nach unermüdlichem Einsatz die Unglücksstelle wieder passierbar.“ Schütteln beim Hinausgehen Pfarrer Vater die Hand. Lothar Hermes hat Tränen in den Augen. Lange war er nicht mehr in Langenweddingen. Genauer gesagt: dreißig Jahre. Jetzt ist er von Schackensleben herübergekommen, eine halbe Stunde mit dem Auto.
Zwei Jungen, Ingo und Otmar, haben die Hermes am 6. Juli 1967 verloren. Und eigentlich sollten auch der älteste Sohn Klaus und Edgar, der jüngste, mit ins Ferienlager fahren. Nur weil Klaus mit der Schule auf Jugendweihefahrt wollte, meldete Lothar Hermes Klaus und Edgar um – für den zweiten Durchgang. Sie sind nicht mehr gefahren.
Lothar Hermes sitzt in seinem Wohnzimmer und starrt an die Wand. Lange hat ihn keiner mehr nach Ingo und Otmar gefragt. Ja, das Leben habe damals weitergehen müssen. Schon der anderen Söhne wegen. Der jüngste, Udo, kam am 9. August 1967, einen Monat nach dem Unglück, zur Welt. Lothar Hermes steht auf und nimmt ein Bild von der Wand, wischt den Staub mit dem Handrücken beiseite und zeigt auf seine Jungen: links Ingo, in der Mitte Otmar, und Edgar ist auch noch drauf. „Ja, es mußte weitergehen.“ Man habe sich geholfen im Betrieb. Viele seien ja betroffen gewesen. Die Eltern bekamen ein paar Tage frei. Der Werkstattleiter führte Gespräche. Der Mann von der Versicherung war der einzige, der noch Jahre später regelmäßig bei den Hermes vorbeischaute. „Unter den Kollegen im Baustoffwerk hat man wenig darüber geredet“, sagt Lothar Hermes. Klar, anfangs sei natürlich eine traurige Stimmung dagewesen. Dann sei die Arbeit weitergegangen, normal. Irgendwann habe er den Betrieb gewechselt.
Tränen. „Meine Mutter hat die Jungs damals an den Zug gebracht. Und sie in den ersten Wagen gesetzt“, sagt Lothar Hermes. Dann, gegen 9 Uhr, sei eine Betriebsversammlung einberufen und den Eltern mitgeteilt worden, was in Langenweddingen passiert ist. Jeder habe gehofft. Aber im ersten Wagen! „Die Jungs hatten keine Chance.“ Spät am Abend wurden seine Frau und er ins Krematorium auf dem Magdeburger Westfriedhof bestellt. Sachen lagen aufgereiht. Fetzen von Taschen. Schnallen von Schuhen „Ich habe die Kofferschlüssel meiner Jungs erkannt.“ Zwei gleiche, jeder mit einem Herzen drin. „Und dann habe ich noch die Turnhosen wiedererkannt.“ Die von der Westverwandtschaft. Da wußte er, seine Jungs waren dabei. Was im Sarg drin ist, das wissen die Hermes nicht. Es sei ihnen nicht erlaubt worden reinzuschauen. Nur einer, der den Sarg getragen habe, habe später zu ihnen gesagt: „Ein Geruch war da.“
Die Hermes wollten nicht, daß die Söhne auf dem Magdeburger Westfriedhof beerdigt werden. So gab es drei Tage später, am 14. Juli 1967, in Schackensleben noch einmal eine Trauerfeier. Und nun diese Gedenkfeier, die erste nach dreißig Jahren. „Den Vaters ist zu danken, daß meine Jungs nicht vergessen werden“, sagt Lothar Hermes.
Im „Weißen Schwan“ wird noch immer getanzt. Aus den Fenstern kreischt DJ Bobo. Der kleine Menschenzug zieht denselben Weg durchs Dorf zurück. Christina und Eberhard Vater haben sich untergehakt.
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