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Archiv-Artikel

Es liegt nicht an dir

Identitätsprobleme – und ab auf die Couch? Die Kritische Psychologie, in Deutschland etabliert durch die Studentenbewegung in den 70er Jahren, setzt nicht beim Individuum an. Sie sieht den Weg aus Krisen in der Veränderung der Lebensumstände. Erlebt sie in der globalisierten Welt eine Renaissance?

VON MICHAEL ZIMMERMANN

Wenn die 23-jährige Franziska (Name geändert) nur wüsste, ob sie ein persönliches Problem hat. Ja, es geht ihr nicht gut, schon seit langer Zeit nicht. Sie ist ewig am Grübeln, weiß nicht, was sie später mal beruflich machen soll und ob sie das überhaupt selbst in der Hand hat. Momentan studiert sie Soziologie, Literaturwissenschaft und Politik in Nürnberg. „Irgendwas Sinnvolles“, sagt sie, will sie danach arbeiten. Derzeit engagiert sie sich in einer Frauengruppe, vorher hatte sie ein Praktikum bei einer Flüchtlingshilfe gemacht.

Wären da nicht immer wieder diese Angstzustände, die Franziskas Hände zittern und sich ihre Worte plötzlich überschlagen lassen, wenn sie über etwas spricht, das ihr wirklich wichtig ist, man könnte bei ihr von einem ganz normalen Identitätsfindungsprozess einer Heranwachsenden ausgehen. Vor einigen Monaten, als sie kaum schlafen konnte, hat Franziska den Weg zu einer Psychologin gefunden. Man weiß ja nie – vielleicht hilft es was. Die Therapeutin war ihr auf den ersten Blick nicht unsympathisch: ruhig, freundlich, helle Farben an den Wänden – nur der Mondkalender auf der Toilette hat Franziska gleich zu Anfang etwas irritiert. Mittlerweile geht sie da nicht mehr hin; drei oder vier Mal war Franziska „in Therapie“, hat von ihrer Unzufriedenheit mit der Welt erzählt, von sich aus über Kapitalismus geredet, über Druck, aber auch von ihrem Engagement. Dennoch fühlte Franziska sich unverstanden; die Therapeutin sagte Sätze wie „Da spüre ich eine große Unzufriedenheit“ oder „Dann ist es doch gut“, wenn Franziska meinte, ihr Leben zukünftig durch soziale Arbeit finanzieren zu wollen.

Wer weiß, hätte Franziska sich in den letzten Jahren nicht intensiv mit Marxismus beschäftigt, vielleicht hätte sie ihrer Therapeutin geglaubt, dass alles gut ist, wenn sie für sich einen Weg gefunden hat, mit der Realität umzugehen. Vielleicht wäre es ihr die eigene Selbstverwirklichung wert gewesen, kapitalistische Fehlentwicklungen auszublenden. Doch Franziska fühlte, dass ein intensives Einlassen auf diese Art von Therapie bedeutet hätte, ihre grundsätzliche Systemkritik zu relativieren: „Es wäre auf eine Uminterpretation der Probleme hinausgelaufen.“ Für bürgerliche Psychologen ist diese Art von Therapieabbruch oft Teil des diagnostizierten „Problems“, eine Art Widerstand.

„Recht hat derjenige, der den anderen in die Situation des Analysiert-Werdens bringt“, mit diesen Worten hatte sich der Existenzphilosoph Karl Jaspers einst gegen die Freud’sche Psychoanalyse gewandt. Diplompsychologin Christina Kaindl aus Berlin-Kreuzberg spricht heute von „Herrschaftsstrukturen, die auch die Psychoanalyse nicht anspricht“, obwohl sie dieser Schule nicht jedes gesellschaftskritische Potenzial absprechen will.

Marx lesen in Psychologie?

Die 35-jährige Kaindl promoviert derzeit im Fachbereich Politische Psychologie an der Freien Universität Berlin über die Frage, warum rechtsextreme Angebote für Menschen subjektiv Sinn ergeben können und was das mit der neoliberalen Ausprägung des Kapitalismus zu tun hat. Durch die ZVS wurde sie für ihr Psychologiestudium nach Berlin gelost – was sich als enormer Glücksfall erweisen sollte: Sie lernte dort noch den 1995 verstorbenen Gründer der Kritischen Psychologie, Klaus Holzkamp, kennen. Anfangs war Kaindl noch irritiert: „Marx lesen in Psychologie …?“, dachte sie – kurze Zeit später leitete sie bereits das Tutorium für Kritische Psychologie.

Frustriert statt tolerant?

Die Anfänge der Kritischen Psychologie sind eng mit der Psychologiekritik der Studentenbewegung verbunden, die sich vor allem als Kritik der herrschaftswissenschaftlichen Funktion der „Wissenschaft Psychologie“ mit ihren Befriedungs- und Selektionsstrategien äußerte. In der Tat gibt es kaum einen Bereich der Gesellschaft, an dessen Gestaltung und Reproduktion Psychologen nicht beteiligt wären. Man muss gar nicht über offensichtliche Marketingstrategien, Optimierung von Folter oder die seelische Stabilisierung von Bomberpiloten in Angriffskriegen reden; das keinesfalls wertneutrale Begriffsinstrumentarium klassischer Ansätze entfaltet seine Wirkung auch schon dort, wo ökonomisch soziale Probleme zu individuell-psychologischen umformuliert – und damit umgedeutet – werden: Aus zwei Zimmern für eine fünfköpfige Familie wird dann schnell ein (Therapie-)Gespräch über Frustrationstoleranz.

Die Kritische Psychologie dagegen versteht sich selbst als „Subjektwissenschaft“. Der Mensch wird als individuelles, Natur- und Gesellschaftswesen begriffen. Marxistisch gesehen sind einzelne Sachverhalte in ihrer Bedeutung nicht aus sich selbst heraus zu begreifen, sondern nur in ihrer Funktion innerhalb der arbeitsteiligen Reproduktion. Dennoch determinieren gesellschaftlich-ökonomische Bedingungen menschliches Handeln nicht völlig, so Kaindl, sondern erscheinen als subjektive Bedeutungsraster, zu denen sich der Einzelne verhalten muss und die ihm Handlungsmöglichkeiten eröffnen.

„Vermeintlich konkrete Situationen, in denen sich Patienten befinden, sehen immer nur so ‚konkret’ aus, weil die meisten traditionellen psychologischen Ansätze das gesellschaftliche Drumherum abschneiden“, sagt Kaindl und gibt das Beispiel eines von bürgerlichen Psychologen als „konzentrationsschwach“ diagnostizierten Schülers: Allein schon der Begriff „konzentrationsschwach“ verstellt den Blick darauf, dass dazu vielleicht ein „didaktikschwacher“ Lehrer gehört, der seinen Stoff nur durchzieht, weil er unter dem Druck bestimmter Lehrpläne steht, die wiederum nach bestimmten Verwertungskriterien entworfen wurden, und so weiter.

Die Kritik richtet sich vor allem gegen die experimentell ausgerichtete Psychologie: Gesetzesaussagen könnten nicht über die Köpfe der Subjekte hinweg gemacht werden. Versucht wird von kritischer Seite stattdessen, den „Patienten“ ebenfalls mit auf die Forschungsseite zu stellen. Obwohl auch die Psychoanalyse darauf achtet, wie bestimmte Begriffe in gesellschaftlichem Kontext stehen, geht dieser Ansatz den Kritischen Psychologen dennoch nicht weit genug: Im triebtheoretischen Modell der Psychoanalyse stecke die Vorstellung, dass der menschliche Trieb notwendig gegen die Gesellschaft gerichtet sei. „Das sieht mir zwar faktisch auch so aus“, gesteht Kaindl zu, jedoch stimme das nur in einer herrschaftsstrukturierten Gesellschaft. „Eine Gesellschaft muss aber nicht zwingend eine Machthierarchie besitzen. Persönliche Probleme und Gesellschaft sind prinzipiell nicht zu trennen.“

Grundsätzlich treffe dieser Einwand auch auf andere tiefenpsychologisch fundierte Ansätze zu, die mit Erkenntnissen der Psychoanalyse arbeiten. So wirke ein Therapeut, der nach der klientenzentrierten Gesprächstherapie von Carl Rogers arbeitet, oft bewusst als eine Art „Spiegel“, der dem Patienten bestimmte Individualprozesse zu Bewusstsein bringen soll. Dann fallen eben solche Sätze: „Ich spüre, Sie haben eine große Wut, wenn Sie über Ihren Ehemann sprechen.“ Die Menschen fühlten sich dabei zwar unmittelbar verstanden, das gesellschaftliche Kernproblem werde aber nicht aufgezeigt. Im Gegenteil: Der Therapeut soll im Sinne Rogers’ sogar möglichst wenig interpretieren, sich möglichst wenig einmischen, weil das Angst machen könnte.

Es gibt auch einige Praxen, die nach kritisch-psychologischem Ansatz arbeiten. Weil nur bestimmte Therapieansätze über die Krankenkassen abrechenbar sind, kommen viele Analytiker um eine „doppelte Buchführung“ nicht herum. Doch auch bei anderen Alternativansätzen will der Unterschied zwischen offizieller Diagnose und tatsächlicher Analyse gelöst werden. Als institutionelle Basis dient den kritischen Psychologen der gemeinnützige Verein „Gesellschaft für subjektwissenschaftliche Forschung und Praxis“.

Kritik nur als Kür?

An der FU wurden in den letzten Jahrzenten viele Stellen mit gesellschaftskritischem Potenzial gestrichen: Anfang der 90er war noch etwa ein Drittel der akademischen Psychologie kritisch orientiert. Mittlerweile hält mit Morus Markard noch ein letzter Professor das Fähnlein hoch – jedoch ohne eigenen Fachbereich mit entsprechenden Geldern. „Es herrscht das Klima: Kritik – das machen wir nur, wenn wir uns das leisten können, als Kür“, findet Kaindl. Auch die ehemalige Zeitschrift der Kritischen Psychologie, Psychologie und Gesellschaftskritik, wurde vor einigen Jahren bezeichnenderweise umbenannt in Psychologie und Gesellschaft – mit postmoderner inhaltlicher Ausrichtung.

Und die Zukunft? Es eröffnen sich den Subjektwissenschaftlern auch Arbeitsfelder außerhalb des abgegrenzten Bereichs bürgerlicher Psychologie. „Das totale gesellschaftskritische Loch scheint überwunden zu sein“, glaubt Kaindl, „marxistische Ansätze werden wieder nachgefragt.“