■ Es ist Frühling, und jetzt sprießen auch sie wieder:: Die Longitudinalwortbildungen
In den ersten Tagen des Frühlings, wenn die verschmierten Kugelschreiber geputzt und die Grauschleier von den Tastaturen gescheuert sind, wenn der Nikotinbelag vom Bildschirm gewischt und der Anspitzer angespitzt ist, naht alljährlich auch der Zeitpunkt, den deutschen Wortschatz aufzupolieren und quasi innovativ zu ergänzen. Berufen dazu fühlen sich Menschen sonder Zahl, aber nur wenige sind auserwählt, wirklich Substantielles in eine Kette von Buchstaben zu bringen. Mit der Rechtschreibreform hat das nun wieder rein gar nichts zu tun, sondern auch und vor allem mit der Neigung der deutschen Sprache zu Longitudinalwortbildungen.
Der Heyne Verlag hat sich etwas Feines ausgedacht. In einem Prospekt für den Buchhandel, in dem die neue Sommeraktion „Endlich Zeit zum Lesen“ vorgestellt wird, bietet Heyne seinen Kunden „für eine optimale Präsentation Ihrer Aktionstitel für noch schnellere Umsätze“ etwas sensationell Neues an: die „Sägezahnschütte“.
Von der ist es nicht weit zum Dinosaurier-Freilichtmuseum im niedersächsischen Münchehagen. Wer den Rundgang unverletzt hinter sich gebracht hat, ohne über einen der Styropor-Boliden gestolpert zu sein, sieht sich einer Informationstafel gegenüber, die tut, was sie soll. Sie informiert über die unterschiedlichen Theorien, warum denn nun eigentich die Dinosaurier ausgestorben sind. (Die Älteren unter uns werden sich an dieser Stelle an den Schlager aus den späten Siebzigern erinnern: „Die Dinosaurier / wer'n immer trauri'er.“) Daneben eine EKG- ähnliche Graphik der letzten paar hundert Millionen Jahre. Die Spitzen bezeichnen „Massenaussterbeereignisse“. Kein Zweifel, auch dieses schöne neue Wort darf einen Platz in den Frühjahrscharts beanspruchen.
Unweit von Münchehagen lebt der Schlangersänger Heinz Rudolf Kunze. Sein Beitrag fand sich in der vorletzten Ausgabe der Zeitung Die Woche. Sie fragte den Barden: „Was würden Sie zuerst durchsetzen, wenn Sie einen Tag lang Deutschland regieren könnten?“, und ihm fiel die Antwort ein: „Strafbarkeit von Selbstmitleid und Vergangenheitsbewältigungsbußrausch“. Er hätte womöglich ebenso „Vergewaltigungsblutrausch“ meinen können, wer weiß das schon, er ganz bestimmt nicht, aber er schrieb offenbar tatsächlich Vergangenheitsbewältigungsbußrausch. Als ob er davon was verstünde. Als ob ihn das etwas anginge. Kunzes Beitrag zur Hysterikerdebatte zeigt, daß der Mann sich mittlerweile nicht nur musikalisch, sondern auch gedanklich in der ZDF-Hitparade am wohlsten fühlen muß.
Sägezahnschütte, Massenaussterbeereignisse, Vergangenheitsbewältigungsbußrausch. Bitte auswendig lernen. Dietrich zur Nedden
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