piwik no script img

Archiv-Artikel

Es grüßt euch alle Marcel

Urlaub vom Ich: Wenn Ferien mit der Familie des Bruders an die Bedingung geknüpft ist, Schwules außen vor zu lassen. Sonst könnte die Ehre der Sippe leiden

VON MARCEL ATLAS

Immer einen Schritt hinter der Schwägerin in Richtung Strand unterwegs, als Lastesel: Sonnenschirm, Liegestuhl, Kühltasche. Die Frau des Bruders ist schwanger, der Bruder mit Extremsport beschäftigt, und einer muss ja auf den Nachwuchs aufpassen. Sich dann doch nützlich machen.

Strand? Welcher Strand eigentlich! Eine Steinwüste an der Adria, Kiesel, Betonblöcke, Felsen, Geröll, und dazwischen kullern plärrende Kleinkinder, lagern prallbäuchige polnische, ungarische und deutsche Familienväter, cremen sich Mütter aller Nationen die Schwangerschaftsstreifen mit Lichtschutzfaktor zwanzig ein. Super Urlaub.

Ferien, die so nie hatten stattfinden sollen, aber dann doch ihren Lauf nahmen, weil keine Ausrede mehr gefruchtet hatte. Schon seit Jahren fahren der Bruder und seine in Kroatien aufgewachsene Frau im Sommer an die Adriaküste, ihre Heimat besuchen, Familie besuchen – schon seit Jahren stand die Einladung, endlich mal mitzukommen. Allerdings verbunden mit der Auflage, doch bitte kein Aufhebens um die deviante sexuelle Orientierung zu machen, weil dem weder die kroatische Nation noch die ihr angehörige angeheiratete Verwandtschaft gewachsen wäre. Man hat schließlich gerade einen Krieg überstanden: Also den Lebensgefährten als Chauffeur ausgeben oder besser gleich zu Hause lassen, keine Verhaltensauffälligkeiten … Warum auch nicht? Soll ja Menschen geben, die gern inkognito verreisen.

Alles zu Hause geblieben, die Identität, der Lebenspartner, das eigene Leben. Im Koffer bloß T-Shirts, eine Dreiviertel- und eine Badehose. Einige unverfängliche Bücher und fast heimlich eingeschmuggelt: eine Rufus-Wainwright-CD. Das Album ist unbeanstandet durch den Zoll gekommen, in Kroatien weiß natürlich kein Mensch, dass es sich um einen schwulen Sänger handelt, der auch schwule Themen besingt: „Better pray for your sins, / ’Cause the gay messiah is coming.“

Ein Lied kann eine rettende Insel sein, gerade in einem vor Katholizismus und Familienwerten strotzenden Land. Wer sagt eigentlich, dass Deutschland spießig ist? Bloß, weil es nicht am Mittelmeer liegt? In Kroatien denkt man noch immer, dass Homosexualität eine Sünde, milder gestimmt: eine Krankheit ist. Die Katholen wirken hier unangekränkelt, sie feiern ihren Glauben fröhlich, denn Familie geht ja über alles und auch die Tradition. Die Männer müssen Macho sein, sprechen mit dunkler, kehliger Stimme. Die Frauen klagen, kochen, machen sich schön und umsorgen die Kinder.

Der Liegestuhl ist aufgebaut, der Schirm in Stellung gebracht. Und was tun wir jetzt? Kein weißer Hai in Sicht, keine Strömung, keine Killerkraken. Also machen, was alle machen: Urlaub. Urlaub, Urlaub, Urlaub. In diesem Fall zwangsweise: vom Ich.

Schon nach ein paar Tagen ist das mühsam errichtete Ich unter die Walze der Mehrheitsgesellschaft gekommen. Abends sitzt man mit anderen Urlaubern auf der Terrasse der Pension, spricht über Autos, Sport, Kabelfernsehen und: Kinder. Wenn man Unmengen „Bambus“ trinkt – Rotwein mit Cola –, ist das zu ertragen. Wenn nur der Vermieter nicht aussehen würde wie ein Pornostar und nicht dauernd das T-Shirt auszöge. Niemand darf meine Blicke auf ihn bemerken. Dabei finden sie einen alle sowieso ein bisschen komisch, linkisch eben: Menschen, die nicht sie selbst sind, sind oft so.

Kein eigenes Zimmer für zwei Wochen, die Schlafstatt ist im Wohnzimmer des Ferienapartments, selbstverständlich schlafen der Bruder und seine Frau im Doppelbett des Schlafzimmers, wie es sich gehört. Der Bruder sagt immer scherzhaft, um seine Frau aufzuziehen: „Ihr Schwulen geht doch nur den Weg des geringsten Widerstands.“ Vielleicht hat er Recht, die Tradition wahren kostet seinen Preis. Nachts laufen die „Golden Girls“ auf RTL, für eine halbe Stunde ist die Einsamkeit wie weggeblasen, das Heimweh.

Zu Hause würde man jetzt auch gleich schlafen, angekuschelt an den Lebensgefährten, im Doppelbett ohne Ritze. Wie es ihm wohl gerade geht? In einer Partnerschaft fährt man gemeinsam in Urlaub, so gehört es sich. Warum also bin ich hier?

Morgens wird man früh wach, weil die Kinder mit dem Bobbycar über unverputzten Beton schrubben. Seit einer Woche das gleiche Ritual, doch heute schmerzt der Schädel besonders. Gestern beim Abendessen mit der Extremsportgruppe eine durchgeknallte Scheidungsanwältin aus München kennen gelernt, die sich mit ihrem 500 SL an die Adriaküste verirrt hat.

Sie sagte: „Du bist der Einzige hier, mit dem man normal reden kann.“ Heute fährt sie weiter ins Ungewisse, sie ist frei, und der Steinstrand wartet schon. Die Kiesel schaben, das Salzwasser ätzt, die Sonne brennt: Bald ist man gar nicht mehr da, das Leben als Großstadthomo nur noch vage Erinnerung. Better pray for your sins, / Better pray for your sins, /’Cause gay Messiah ist coming!

So kann es nicht weitergehen! Die Familie ist irritiert ob des Begehrs, die Familienkutsche für den Nachmittag auszuleihen, weil man mal allein sein möchte, willigt aber doch ein. Rufus Wainwright in den CD-Schlitz, Klimaanlage an, die 170 PS des Kombis röhren unter der Haube: Was kostet die Welt? Ha! In der nahe gelegenen kleinen Seeräuberstadt gibt es ein Internetcafé, kann doch wohl nicht sein, dass man hier der Einzige ist … voilà: Es gibt einen Homostrand mit angeschlossener Crusingarea. Bei näherem Betrachten auch ein Steinstrand, nur mit Männern bestückt. Besonders einer von ihnen sieht gut aus, ihn zu spüren könnte bedeuten: sich selbst wieder zu spüren.

Nichts wie hinterher, in den Wald. Ein schönes Plätzchen hat er ausgesucht, man ist dort ganz ungestört. So ungestört, dass niemand einen Hilferuf hören würde. Sein Begehr ist nicht fleischlicher, sondern materieller Natur. Doch er hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Er hat eben doch kein verängstigtes, schuldbewusstes, leicht einzuschüchterndes Homoopfer vor sich, das man mal eben abziehen kann – wie er es offenbar gewohnt ist. Trotz des von erstaunlicher Naivität begünstigten Überraschungsmoments geht die Rangelei schließlich zu seinen Ungunsten aus.

„Du blutest ja, was ist denn passiert?“, fragt die Familie bei meiner Rückkehr besorgt. „Ach, ich bin nur am Strand auf den Felsen ausgerutscht.“ Die Wahrheit ist einfach viel zu kompliziert. Viel leichter, sich gegen einen Verbrecher zu wehren, als gegen die Werte des Abendlandes. Und gegen den Schock hilft Rotwein mit Cola. Gott sei Dank ist das Auto noch da, die blutenden Schrammen und blauen Flecken hat ja „der andere“ abbekommen, der, den hier niemand kennen darf. Der andere. Im Badezimmerspiegel sieht man neurotisch flackernde Augen.

Heute geht es weiter ins Landesinnere, zur Familie der Schwägerin! Ein großes Hallo ist das, die Gastfreundschaft kennt keine Grenzen: Spanferkel, Grillfleisch, Salate, Backkartoffeln, Küsse und Umarmungen. Das ist also der Schwager aus Deutschland! Groß ist er, gut schaut er aus. Und noch immer keine Frau? Da kann Abhilfe geschaffen werden.

Ein ganzer Reigen unverheirateter Frauen wird nach und nach vorgeführt, meist handelt es sich um Akademikerinnen um die dreißig, für solche Frauen gibt es in den ländlichen Regionen des Landes offenbar keinen Markt, auch wenn sie noch so gerne gebären würden. Wie man aus der Nummer rauskommt? Man behauptet, man habe eine Freundin. Ganz einfach. Ansonsten würde man sich Verdächtigungen aussetzen – und die wären gefährlich. Die Ehre des Bruders steht auf dem Spiel, die der Familie, man würde denken: Was, wenn das Baby im Bauch unserer Enkelin, unserer Tochter nun auch „so einer wird“. Krankheiten können vererbt werden. Viel besser als Rotwein mit Cola wirkt Slibowitz, ein aus Pflaumen hergestellter hochprozentiger Schnaps. Schon um die Mittagszeit genossen, hilft er nicht nur beim Verdauen fettiger Speisen.

Die Gebrüder machen einen Ausflug, nur zu zweit, für den Bruder ist es auch nicht immer einfach, das Familieninferno guten Mutes über sich ergehen zu lassen. Wir fahren durch ein kilometerlanges Nichts, zerbombte Dörfer in der Nähe der serbischen Grenze, überall vermintes Terrain. Neben den kaputten Häusern stehen neue, von der EU finanzierte Ruinen, in denen niemand mehr leben möchte. Man kann sich eigentlich nicht vorstellen, was hier vor sich gegangen ist. Etwas Archaisches, es hatte mit althergebrachten Traditionen zu tun, auch mit Religion.

Das zarte Taftgewand der Zivilisation, das gleiche übrigens, das den Homosexuellen Kerneuropas, durch sie selbst erstritten, ein gutes Dasein ermöglicht, ist hier einfach zerrissen. Kroatien musste seinen Antihomoparagrafen abschaffen, weil es in die EU möchte. Müssen ist nicht wollen, die kroatischen Homosexuellen müssen wohl noch lange über steinige Strände gehen, bis sie weichen Sand unter ihren Füßen spüren.

Die Rückreise erfolgt getrennt. Im Billigflieger nach Hamburg veranstalten die Stewards ihr Safetyballett, der Kapitän geht auf vollen Schub und der Airbus hebt ab, doch erst über den Wolken erscheint die zurückgewonnene Freiheit wieder grenzenlos. Bei der Ankunft zu Hause piepst eine SMS: „Stehen in Österreich im Stau.“ Der Weg des geringsten Widerstandes, ja. Ein lahmer Triumph.

MARCEL ATLAS, 29, ist Journalist und lebt bei Hamburg