: „Es geht um den Geist“
Wie kann Schule im Hier und Jetzt gelingen? Der Filmemacher Reinhard Kahl spricht im taz-Interview über den Pisa-Sieger Finnland, Zentralabitur, Zensuren und große und kleine Lösungen
Interview: Kaija Kutter
taz: Sie haben für Ihren Film „Treibhäuser der Zukunft“ deutsche Schulen bereist. Wurden Sie überrascht?
Reinhard Kahl: Ich hatte zunächst erfolgreiche Schulen bei den Pisa-Siegern in Skandinavien gefilmt. Als ich den Film hier zeigte, erzeugte er große Faszination, aber auch die Aussage, ‚Leider sind wir keine Finnen‘. Da packte mich der Trotz, zu schauen, ob wir gute Schule nicht auch hier hinbekommen, ohne zuvor die ganz großen Fragen des Systems zu lösen. Ich habe recherchiert und mehr gelungene Schulen gefunden, als ich gedacht hatte.
Und wie gelingen sie?
Gelingen bedeutet nicht, dass Schulen perfekt sind oder alles richtig machen. Was diese Schulen auszeichnet ist, dass sie sich nicht als Opfer oder ausführende Behörde sehen. Sie haben etwas, was schwer zu erklären ist, eine positive Beseelung. Das klingt pastoral, aber es geht um das Menschenbild. Entscheidend ist, dass eine Atmosphäre geschaffen wird, in der man es als Vorteil ansieht, dass Schüler verschieden sind, und nicht als einen Nachteil, den man korrigieren muss. In Finnland gelingt das fast allen Schulen.
Finnland hat ja auch das Ziel, dass 70 Prozent Abitur machen.
Finnland hat sich in den 90ern im Zuge der Umwandlung zur Kommunikationsgesellschaft in der Verfassung zum Ziel gesetzt, dass 70 Prozent studieren. Inzwischen sind es sogar schon 71 Prozent. Bei uns erzeugt dies auch bei progressiven Leuten eine Ungläubigkeit, die bis ins Körperliche geht. Es kommt uns wie Inflation vor. Wir haben Probleme, anderen etwas zuzumuten. Das gegliederte Schulsystem bietet tausend Ausreden zum Abschieben. Schüler werden abgeschoben. Verantwortung wird abgeschoben. Niemand gehört am Ende dazu.
Im Film sagt eine Lehrerin, sie wolle kein Kind beschämen.
Man hört bei ihr, dass sie das Problem kennt, auch von innen. Kinder nicht zu beschämen ist ein Ziel.
Nun gibt es aber Zwänge. Lehrer müssen in Hamburg Drittklässlern Noten geben und in diesen Tagen Viertklässlern eine Schulform empfehlen.
Es stimmt, diese Strukturen sind vorgegeben und sollten eigentlich zu einem großen Aufschrei führen. Nur sollte dies nicht entschuldigen, dass Lehrer Kinder auch ohne Not beschämen, indem sie in den Kommentaren der Benotung die Unzulänglichkeiten und die Abweichung betonen, statt einen Fehler auch als Chance zu begreifen.
Aber es gibt doch äußere Zwänge, große Klassen und wenig Personal. Jetzt gibt es in Hamburg sogar zentrale Prüfungen. Noch mehr Druck, alle auf Linie zu bringen.
Ich glaube, dass zentrale Prüfungen besser sind. Wenn es schuleigene Prüfungen gibt, ist die Verführung groß, dass Lehrer nur abfragen, ob der zuletzt gelernte Stoff beherrscht wird, und Schüler nur für die Prüfung lernen. Zentrale Prüfungen können weniger speziell sein, weshalb die Deutschen finden, dass Prüfungen in anderen Ländern so leicht sind. Es geht aber dort um die Kompetenzen, während die deutschen Prüfungen stark den Stoff der letzten Wochen abfragen. Was nicht heißt, dass es nicht auch schlechte Zentralprüfungen gibt.
Prüfungen machen Angst.
Ja. Wenn Prüfungen als Kontrolle verstanden werden, um die blinden Passagiere an Bord zu entlarven. Sieht man Prüfungen tatsächlich als Überprüfung dessen, was gemacht wird, um Konsequenzen zu ziehen und Ziele zu definieren, dann verlieren sie ganz viel von der schwarzen Pädagogik.
Was empfehlen Sie Eltern und Schülern, um Schule zu überleben.
Sie sollten Schule zu einem Lebensraum machen. Zu einem anregungsreichen Ort. An der Schule am Bodensee, die ich in meinem Film als gelungenes Beispiel darstelle, sagen Schüler, drei Stunden am Nachmittag vergehen wie eine Minute.
Eltern sind Schule oft hilflos ausgeliefert.
Auch Eltern haben ihre Geschichte mit der Schule. Für sie ist Schule immer noch die Institution, die rausfindet, ob wir zu Recht dabei sind oder irgendwie Schrott. Und in der Tat erleben Hauptschüler Schule als Verbannung in die Kellerräume unserer Gesellschaft.
Und doch sind Lehrer in diesen Tagen wieder gezwungen, Schüler in Formen zu sortieren.
Alle guten Schulen, die ich gefunden habe, stehen zum ständisch gegliederten System im Widerspruch. Man kann vieles intern aufheben und mildern. Lehrer sollten nicht das Spiel mitspielen und beklagen, dass sie es nicht anders können.
Aber was sollen sie tun?
Sie sollten aus diesem Geist aussteigen – das kann man. Es gibt eine Komplizenschaft zwischen dem gegliederten System und der Mentalität. Die Mentalität ist eine eigene Säule. Ich höre sogar Gesamtschullehrer sagen, ‚Ich habe überwiegend Hauptschüler‘. Wenn sich diese Mentalität nicht ändert, können wir von der Auflösung des viergliedrigen Systems nicht viel erwarten.