Es fehlt die Personifizierung

betr.: „Vom Ende eines Märchens“ (Das Verhältnis von Markt und Demokratie ist mit der Globalisierung aus dem Lot geraten) von Ernst Ulrich von Weizsäcker, taz vom 11. 11. 05

Der philosophischen Abhandlung des Weges zum Marktradikalismus von Weizsäckers fehlt die Personifizierung. Sie verdeckt die Verantwortung. Warum diese Umschreibung? Warum spricht er nur vom Kapital und unterlässt es, die zu benennen, die diesem Zeitgeist frönen? Sind es die Wenigen, die reich sind und noch reicher werden wollen oder die viel zu vielen Armen, die viel zu vielen marktwirtschaftlich Überflüssigen und die Vielen, die Angst haben, bald überflüssig zu werden?

Professor Weizsäckers Abhandlung vermittelt den Eindruck, als hätte sich dieser Zeitgeist erst nach der Wende beziehungsweise nach 1990 eingestellt. Das Kapital – warum nicht die Kapitaleigner? – hätte kein Interesse mehr gehabt, gegenüber der Planwirtschaft im Osten, seine – ihre – eigene Überlegenheit zu beweisen. Mag sein. Dann aber – wie vorher schon – nur aus noch mehr Eigennutz. Haben die Kapitaleigner die Richtung der Politik bestimmt?

Professor Weizsäcker schiebt die Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung dem heutigen Zeitgeist zu. Haben unsere Politiker – unsere Volksvertreter! – nicht die Schranken für den Kapitalverkehr abgebaut, den möglichst reibungslosen funktionierenden Freihandel ermöglicht, die Staatsunternehmen privatisiert, den Staat aus der Wirtschaft zurückgezogen, die Grenzen für Firmenbeteiligungen geöffnet usw.? Sollten die großen Parteispenden nicht doch nochmals vom Verfassungsgericht überprüft werden?

Professor Weizsäcker zeigt eine Reihe von Möglichkeiten auf, wie einer noch weiteren Verarmung – womöglich Verelendung – begegnet werden könnte. Vergisst er hierbei nicht – wie allgemein üblich – den Einsatz der modernen Technik, der neben der Arbeitsplatzverlagerung in Billiglohnländern das unerträgliche Schicksal derjenigen ist, die marktwirtschaftlich nie mehr gewinnbringend eingesetzt werden können. Hat hier nicht der Staat die verdammte Verpflichtung, endlich eine Wertschöpfungsabgabe zu erheben, um selbst wieder zu wirtschaften und diese Menschen zu beschäftigen – zum Beispiel für mehr Natur- und Umweltschutz. Übrigens, das würde obendrein mehr Binnennachfrage schaffen.

FRANZ MAYER, Steindorf-Hofhegnenberg

Das emanzipatorische Element der Aufklärung beinhaltete zu jeder Zeit auch das Element der freien wirtschaftlichen Betätigung. Dieses war geradezu der Motor der gesellschaftlichen Befreiung in ganz Europa und Nordamerika. In allen wirtschaftlich erfolgreichen Staaten Europas, gerade auch in Deutschland, war das Marktsystem (bei all seinen Unzulänglichkeiten) der Grund für den rasanten wirtschaftlichen Aufstieg in den vergangenen beiden Jahrhunderten.

Nicht vergessen sollte man auch, dass es sich bei den von Weizsäcker gescholtenen „Angloamerikanern“, also weniger wage: Großbritannien und den USA, um die ältesten Demokratien der Welt handelt. Dieses empirische Indiz für die Richtigkeit der Annahme, dass Demokratie und freie marktwirtschaftliche Betätigung in einem positiven Verhältnis stehen, sollte man wohl nicht gänzlich ignorieren.

Richtig ist, dass es umgekehrt gerade der Mangel an wirtschaftlicher Freiheit (und deren natürlichem Gegenstück: der momentan so sehr in Verruf geratenen Verantwortung) ist, der es den Menschen in Kontinentaleuropa so schwer macht, in einem Marktsystem ihren Platz zu finden, das nicht mehr durch wirtschaftliche Ausgrenzung der Dritten und Abschottung von der Zweiten Welt bevorzugt ist. Richtig ist aber Weizsäckers These, dass auch der globale Markt – ebenso wie der nationale – Regeln braucht, um zum Wohle aller funktionieren zu können.

Wenn Weizsäcker hier aber von „Gegenkräften gegen die brutale Logik des Markts“ schwadroniert, so begeht er bei aller Richtigkeit seines Grundgedankens den in der politischen Linken seit jeher gemachten Fehler: die Unzulänglichkeiten des Markts bei der Erfüllung gesellschaftlicher Aufgaben zum Anlass zu nehmen, den Markt als Verteilungssystem insgesamt in Frage zu stellen. Wer das tut, ignoriert, dass es gerade auch den Kräften des Marktes zu verdanken ist, dass die Menschen in Asien und Südamerika – bei allen unbestreitbaren Problemen – heute größere Chancen kultureller, wirtschaftlicher, auch medizinischer Partizipation haben, als das etwa 1985 der Fall war. Und das ist vor allem Folge der Reallokation von Kapital durch den Markt, der wie immer zuerst erkannt hat, das eine jammernde, alternde, bequeme, manchmal auch schlicht faule kontinentaleuropäische Bevölkerung nicht zur Erbringung weltmarktgerechter Renditen in der Lage ist. Diejenigen, die das am ungerechtesten finden, sind bezeichnenderweise die Kontinentaleuropäer.

FREDERIK MÜHL, Wiesbaden