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Erziehung zur Unmündigkeit

Schöne neue Streamingwelt: Was die neue Muting-Funktion bei Spotify zu bedeuten hat und welche Alternativen es beim Musikhören per App gibt

Pro Stream 0,00286 Euro: Musiker Drangsal (Mitte) und Band Foto: Jan Philpzen

Von Johanna Schmidt

Das Phänomen, sich an einem Song zu „überhören“, ist allen bekannt, die gern Musik hören. Man entdeckt ein Lied, das so gut gefällt, bis man es in Dauerschleife hört. Und irgendwann merkt man, dass das eventuell ein wenig zu oft war. Anschließend verschwindet der Song in den Untiefen der eigenen digitalen Musiksammlung. Beispielsweise bei Spotify, dem Streamingdienst, der in Deutschland Marktführer ist. Weltweit hören etwa 626 Millionen Menschen ihre Musik über diesen Dienst, etwa 246 Millionen davon in der Bezahlvariante.

Um die Marktmacht zu steigern, lässt man sich bei Spotify allerlei Zusatzfunktionen einfallen. Die neueste? Bald kann man einzelne Songs muten. Sie werden dann für einen Zeitraum von 30 Tagen nicht in der Playlist ausgespielt. „Mit dieser Option kannst du einen Titel vorübergehend aus deinen Empfehlungen entfernen, um die Musik frisch zu halten und gleichzeitig die Möglichkeit für ein Wiedersehen offen zu halten“, begründet Spotify die Entwicklung.

Wo hier nur ansetzen? Viel Geld entgeht den gemuteten Künst­le­r:in­nen nicht. Pro Song, der gestreamt wird, erhalten sie bei Spotify ohnehin gerade mal 0,00286 Euro, also 2,86 Euro für 1.000 Streams. Spotify ist damit der Dienst, bei dem die Vergütung für die Musikerinnen am schlechtesten ausfällt. Wie viel Künst­le­r:in­nen allerdings wirklich über den Dienst verdienen, ist schwer nachzuvollziehen, bei den konkreten Auszahlungen agiert Spotify bis jetzt intransparent.

Dabei gibt es gute Alternativen: Weit transparenter und zudem mit besserer Vergütung und vor allem exzellenter Audio­qualität tritt das französische Unternehmen Qobuz an. Pro Stream wird durchschnittlich mit 0,01802 Euro vergütet, das sind pro 1.000 Streams 18,02 Euro. Ähnlich verhält es sich bei Tidal, dem Dienst, der 2015 vom US-Rapstar Jay Z übernommen wurde. Pro Stream werden hier 0,01784 Euro ausgezahlt, also 17,84 Euro für 1.000 Streams.

Um zu verdeutlichen, welchen Unterschied das macht, schaut man sich das Ganze am besten an einem konkreten Beispiel an. Im Juni erscheint mit „Aus keiner meiner Brücken die in Asche liegen ist je ein Phönix emporgestiegen“ ein neues Album des mittlerweile etablierten deutschen Indiekünstlers Drangsal. „Ich hab von der Musik geträumt“ heißt eine der daraus ausgekoppelten Vorab-Singles, die auf Spotify bereits rund 55.000-mal angehört wurde und dem Künstler über diesen Dienst somit 157 Euro einbringen würde. Bei Tidal wären das immerhin schon etwa 981 Euro und bei Qobuz 991 Euro. Da die meisten Nutzer allerdings bei Spotify sind, erzielen andere Anbieter weit weniger Streamingzahlen. Ein guter Grund also, um endlich über einen Wechsel nachzudenken.

Was kann man aber denjenigen raten, die darüber hinaus noch mehr unterstützen wollen? Daran zu appellieren, Konzerttickets und Merchandises zu kaufen, natürlich. Wären damit alle Probleme gelöst? Sicher nicht. Die unzureichende Bezahlung für Streams ist lediglich ein Symptom auf dem Musikmarkt. Also hin zur Ursachenforschung. Es ist natürlich klar, dass dieser Text diese nicht mal ansatzweise vollständig abbilden kann, aber beim reinen Streamingdienst-Vergütungs-Bashing sollte kritischer Musik­journalismus nicht verharren – auch wenn es gut tut und wichtig ist, dieses Thema präsent zu halten.

Wirft man einen Blick auf den eigenen Alltag und fragt sich, wann man denn eigentlich Musik hört, oder eher, wann Musik an das eigene Ohr dringt – also nebenbei läuft –, dann ist das beispielsweise schon beim Einkaufen der Fall. Wenn im Supermarktradio die besten Hits der 80er bis Nuller spielen oder seelenlose Ibiza-Vibe-Remixe laufen. Oder an der U-Bahn-Haltestelle, vordergründig, um Fahrgäste zu unterhalten, eigentlich aber, um Wohnungslose davon abzuhalten, dort zu schlafen. Ansonsten ist nahezu jeder Werbespot mit Musik unterlegt.

Dauerverfügbarkeit – man könnte auch von Zwangsbeschallung sprechen – hat Einfluss auf den Wert, dem Musik beigemessen wird. Kurzes Gedankenexperiment: Drückte man jemandem beim Verlassen des Hauses jeweils eine Tüte Gummibärchen in die Hand, würde derjenige noch dafür bezahlen wollen? Eher nicht. Würde er immer mehr davon haben wollen? Wahrscheinlich. An diesem Punkt lohnt es sich, erneut auf Spotify zurückzukommen und die Vermarktungsstrategien des Dienstes zu untersuchen. Hauptsächlich Spotify, weil der Streamingdienst, der millionenfach genutzt wird, Einfluss auf das Hörverhalten nimmt.

Dieser Einfluss bedingt – und das ist gewollt – nichts anderes, als Hö­re­r:in­nen zu infantilisieren und zur absoluten Unmündigkeit hinsichtlich von Musikgenuss abzurichten. Die geplante neue Muting-Funktion von Lieblingsliedern ist ein Paradebeispiel dafür. Sicherlich wird es nicht mehr lange dauern, bis Spotify eine Funktion einführt, die die Nut­ze­r:In­nen gleich beim Öffnen der App nach ihrer Stimmung fragt und daraufhin eine personalisierte Playlist, passend zu dieser, abspielt.

Wegkommen muss man vom Gedanken, dass Streaming der Königsweg ist

Solche auf Konsumenten zugeschnittenen Song-Sammlungen sind das, was in Wahrheit die größte Distanz zwischen Hö­re­r:in­nen und Künst­le­r:in­nen schafft. Ein anonymisiertes Hörverhalten, das sich in Gesprächen über Musik in Sätzen wie „Kennst du Song XY? Weiß nicht, von wem der stammt“ äußert. Hinzu kommt noch, dass es Snippets sind, die auf Social-Media-Plattformen wie Tiktok beim Erstellen von Video-Content genutzt werden. Es sind dann eher Ausschnitte daraus, die große Verbreitung erlangen. Selten aber hilft das den Künst­le­r:in­nen dahinter. Es hat nur dazu geführt, dass Superstars von Majorlabels ihre Musik für diese Kurzformate maßschneidern. Und damit im Grunde genommen nichts anderes machen, als die bestmöglichen Werbejingles zu komponieren und zu hoffen, dass sie den Hintergrund für möglichst viele Nut­ze­r:in­nen bietet.

Insgesamt sorgt die turbokommerzialisierte Situation beim Streaming für Ernüchterung. Wegkommen muss man daher vom Gedanken, dass das eben jetzt der Königsweg ist, wie Musik gehört wird. Warum nicht Musik wieder bewusst einschalten, nicht nur in Form einzelner Songs, sondern mit kompletten Alben von Bands? Erst wenn Mu­si­ke­r:in­nen aus den Playlist-Platzierungen wieder entdeckt werden, wird mehr Geld für Konzerttickets und Merchandises fließen. Und die Namen der jeweiligen Kom­po­nis­t:in­nen kennt man dann auch. Die permanente Erzählung von der „Personalisierung des Hörverhaltens“ ist eine verschleiernde Marketingkampagne, die Hö­re­r:in­nen von den Lieblingsartists entkoppelt. Wie schon ­Tocotronic sangen: „Harmonie ist eine Strategie“.

Und was man als ersten Schritt auf gar keinen Fall machen sollte: Songs, die man gern hören möchte, zu muten.

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