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■ Erstmals seit 1989 scheint derzeit eine Renaissance linken Denkens möglich. Denn eine Gesellschaft, die sich als ideologie- und alternativlos versteht, ist langweiligKommunismus macht klug

Die Arbeiterbewegung ist entschlafen, der Marxismus welk, die Sowjetunion perdu – und wir werden immer dümmer. Dies ist nicht selbstverständlich, sondern überraschend. Das Gegenteil wäre doch naheliegend gewesen: daß sich die Linke – aus der Zwangsjacke des „Klassenstandpunkts“ befreit, aus der Geiselhaft mit jener Union, die den Sozialismus und die Sowjets im Namen trug, entkommen – zu neuen Höhen des Denkens aufschwingt; daß sie – von der kurzen Leine des Dogmatismus, welcher Sekte, Strömung, Tradition auch immer, gelassen – verwegen denkend neue Ideen und Konzepte faßt. Doch diese Hoffnung, so sie je jemand bewußt hegte, ist heute zerstoben.

Diese Feststellung stützt sich so sehr auf Offensichtliches, daß sie beinahe schon banal ist. Und dennoch ist das keine selbstverständliche Folge der Vorgänge des vergangenen Jahrzehnts, sondern deren paradoxes Ergebnis.

Dieses Paradox wird heute eher intuitiv empfunden als bewußt durchdacht und äußert sich als unbestimmtes Unbehagen. Nicht zuletzt deshalb sorgte Micha Brumliks Plädoyer in der taz („Über Kommunismus reden“) für einiges Aufsehen; darum auch hört man heute immer öfter im abgeklärten Tonfall, selbst aus den Kreisen rechtsliberaler Etablierter, „der Marxismus kommt wieder“.

Solche Sätze bergen, hinter ihrer buchstäblichen Bedeutung, einen zweiten, einen Hintersinn. Ein solcher Satz heißt: Eine Welt, zu der keine Alternative mehr gedacht wird, ist langweilig. Ein Denken, das kein Gegenüber kennt, macht dumm. Im Französischen gibt es hierfür seit der Streikbewegung vom Dezember 1995 einen eigenen Begriff: pensée unique, Einheitsdenken. Dieses Unbehagen wird von den neuen kalten Kriegern „Phantomschmerz“ genannt (siehe die Berliner Erklärung der von den Bündnisgrünen direkt an den rechten Rand der Union gerutschten „Bürgerrechtler“), ist in Wirklichkeit aber Folge der Ahnung von der Ambivalenz jener linken Tradition, die heute so allgemein als gestrig gilt.

Denn die Linke verband spätestens seit den zwanziger Jahren Brillanz und Genialität mit grenzenloser Dummheit. Nicht bloß in dem Sinne, daß es geniale (Gramsci, Trotzki, Brecht, Althusser ...) und dumme Linke gab (Stalin, Becher, Ulbricht ...); oft verbanden sich Brillanz und Schwachsinn in einer Person. Die größten Ideen und klügsten Analysen banden sich an tagespolitische Erfordernisse und niedrigste taktische Beweggründe in Macht- und Fraktionskämpfen. Tiefe Einsichten verkamen, zu Schulen geronnen, zu oberflächlichen Dogmen, da deren Aufgabe einer „Strömung“ ihre Identität gekostet hätte. Aber nur unter diesen Umständen konnte linke Theorie gedeihen, weil sie von der – sicher oft illusionären – Überzeugung getragen war, es ginge um höchste Einsätze. Selbst in der verkommensten Sekte der westlichen Linken war so ein Kernbestand an Geist am Werke.

Kommunismus, noch der zur Lehre erstarrte, machte klug. Der verflossene Dogmatismus war also von durchaus doppeltem Charakter. Die Befreiung von ihm ist deshalb auch ein Verlust.

Dies wird anhand von drei Beispielen deutlich. Die Linke hatte spätestens 1989 drei Dinge verloren: ein Land, eine Klasse und ihren theoretischen Standpunkt. Jedes dieser Momente markiert eine Ambivalenz von Befreiung und Verlust.

Erstens: Selbst die Existenz der Sowjetunion, zur Diktatur verkommen, hatte in diesem Dualismus ihren Ort. Schon in ihren besten Zeiten nötigte sie zur Affirmation, zur Parteilichkeit und hatte somit die Tendenz, das Denken in Fesseln zu schlagen. Gleichzeitig aber entfesselte sie das Nachdenken über eine vernünftige Welt, wie Gramsci schrieb: „Von dem Augenblick an, da ein neuer Typ von Staat existiert, entsteht (konkret) das Problem einer neuen Zivilisation.“ Und in ihren schlechtesten Zeiten (und die allergrößte Mehrheit der Jahre der Existenz der UdSSR waren „schlechte Zeiten“) war sie auch und immer noch die – pervertierte – Rückversicherung der Alternative in der Wirklichkeit.

Zweitens: Der Verlust des Glaubens an das Proletariat, als Chiffre für das Subjekt (revolutionärer) Veränderung, markiert keine Befreiung des Denkens, sondern raubt diesem seinen Antrieb. Der Kritik werden keine Flügel verliehen, wenn kein Subjekt mehr gedacht werden kann, das als Träger eines Veränderungsprojekts – und sei es bloß als Phantasmagorie – vorgestellt wird. Theoretisches Denken, das keine Idee möglicher Praxis mehr hat, verkommt. Genauer: Es findet nicht statt.

Drittens: Dies ist, in einem strengen Sinn, eine „tragische“ Konstellation, da sich ja kaum sinnvoll für die alten Illusionen plädieren läßt, wenngleich die gegenwärtige Illusionslosigkeit nichts Heilsames an sich hat. Der alte Vorwurf an linkes Denken, es sei „dienstbar“, also in Dienst genommen, markierte auch dessen Stärke. Definierte es sich so doch als kämpfendes Denken, als Denken, das etwas will. Wenn Louis Althusser vom „Klassenkampf in der Theorie“ und Antonio Gramsci von der „philosophischen Front“ sprachen, implizierte dies, daß linkes Denken ein „Gegenüber“ darstellte, das einem anderen „Gegenüber“ gegenüberstand. Es läßt sich aber leicht einsehen, daß ein „Gegenüber“ konstitutiv für jedes Denken ist.

Eine Gesellschaft, die sich selbst als „ideologielos“ vorstellt und damit ihre Alternativlosigkeit postuliert, macht dumm. Insofern ist, was gerne im hohen Ton „Rekonstruktion linken Denkens“ genannt wird, notwendig. Deshalb kommen die maximalistischen Einsprüche, wie von Micha Brumlik oder von Wolfgang Engler, wieder „in Mode“. Die Erfurter Erklärung der pastoralen Linken ist, in all ihrer Unbeholfenheit, logischer Ausdruck dieser Konstellation.

Und deshalb schließlich ist die Antwort des CDU-Freicorps, die sich „Berliner Erklärung“ nennt, nicht nur dumm, sondern auch gefährlich. Freiheit materialisiert sich in der Möglichkeit, Alternativen zum Bestehenden zu denken. Die Alternativlosigkeit des Kapitalismus zu postulieren ist keineswegs ein Garant der Freiheit, sondern eine Gefahr für dieselbe. „Freiheit oder Sozialismus“ zum Gebot der Stunde zu erklären, ist lächerlich. In Wahrheit heißt die Parole des Tages „Freiheit oder Kapitalismus“. Robert Misik

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