piwik no script img

Archiv-Artikel

Erst die Arbeit, dann das Studium

Ingenieure studieren Wirtschaftswissenschaften, Polizisten büffeln Psychologie: An der Fernuniversität Hagen lernen über 40.000 Studenten – zu Hause und nach Feierabend. Das kostet zwar viel Disziplin, aber dafür steigen die Karrierechancen

VON LUTZ DEBUS

Vor 30 Jahren gab es einen Studentenberg. Und so planten SPD- Bildungspolitiker in Nordrhein-Westfalen Anfang der Siebziger Jahre eine so genannte Entlastungsuniversität. Als Standort bestimmte man Hagen. Mit etwas über 1.000 Studenten startete die Uni im Wintersemester 75/76. Das besondere an der neuen Institution: Der Postbote brachte die Vorlesungen alle zwei Wochen nach Hause. Bis heute ist in Hagen die einzige Uni Deutschlands, die ausschließlich Fernstudien anbietet – mit mehr als 40.000 Studierenden.

Inzwischen ist, so berichtet Susanne Bossemeyer von der Presseabteilung der Universität, aus der Entlastungs- eine Ergänzungsuniversität geworden. Für viele Menschen, die gern studieren möchten, aber für die der normale Hochschulbetrieb zu starre Rahmenbedingungen vorgibt, sei die Fernuni eine praktische Alternative. Als Beispiel verweist Bossemeyer auf die zahlreichen Ingenieure, die in Hagen Wirtschaftswissenschaften studierten, weil ihr Berufsalltag immer mehr ökonomisiert wird. Firmen bräuchten heutzutage keine Tüftler mehr, sondern Manager. Der Grund, warum heute immer mehr Menschen ein Zweitstudium anstreben, liegt für Bossemeyer auf der Hand: Die Chance, mit nur einem Hochschulabschluss Karriere zu machen, seien nicht mehr so hoch.

Allerdings haben Berufstätige nicht die Zeit, sich für Vorlesungen und Seminare mehrere Vormittage in der Woche frei zu nehmen. Für viele Studierende heißt es deshalb, abends nach der Arbeit ein vollwertiges Studium zu absolvieren. Die Abbrecherquote von bis zu 50 Prozent in den ersten Semestern spricht für sich. Diejenigen aber, die den Abschluss in Hagen geschafft haben, sind bei Arbeitgebern sehr begehrte Mitarbeiter. Man schätzt ihre Belastbarkeit und Flexibilität. Eine andere Gruppe Studierender kann nicht regelmäßig in den Hörsaal kommen, weil sie noch die Schulbank drücken muss. Manche Schüler sind auf dem Gymnasium in einigen Fächern chronisch unterfordert. Für diese Jugendlichen bietet sich ein Bachelor-Studiengang in Hagen an. Die Abschlussurkunde etwa des „Bachelor of Sience“ erhält allerdings erst zusammen mit dem Abiturzeugnis seine Gültigkeit. Der jüngste Student an der Fernuni ist 16 Jahre alt.

Aber auch nach dem Abi ist für viele der Weg nicht klar. Ein Studium gilt zwar als Karrieresprungbrett. Häufig raten Eltern und Berufsberater jedoch, zunächst eine Lehre zu machen. Warum nicht beides? So gibt es in Hagen manch studierenden Lehrling. Und sogar ohne Abi kann man in Hagen studieren. In einem „Akademiestudium“ können einzelne Veranstaltungen belegt werden – etwa von Polizisten, die ein paar zusätzliche Kenntnisse in Psychologie für ihre Arbeit mit aufgebrachten Verkehrssündern benötigen.

Wie schon vor 30 Jahren kommen die Lerninhalte per Post. Allerdings ist man inzwischen überwiegend auf digitale Briefe umgestiegen. Ab kommendem Semester ist es sogar Pflicht, einen Internetzugang zu Hause zu haben. Nicht nur schnöde Texte werden verschickt. In Newsgroups wird gemeinsam an der Lösung schwerer Aufgaben gearbeitet. Der Dozent ist über Mail, Telefon oder auch persönlich zu erreichen. Die Studierenden treffen sich sogar manchmal leibhaftig. Besonders zu Beginn des Semesters gibt es die “Präsenzphasen“. Da werden dann Themen abgestimmt und Aufgaben verteilt. Aber sonst lernt jeder für sich allein.

Anders als andere Hochschulen ist die Fernuni auch in einem weiteren Punkt: Aufgebrachte Studenten, die das Rektorat besetzen wollen, gibt es hier nicht. Die Fernuni hat sich gerade erst dafür entschieden vorläufig keine Studiengebühren einzuführen. Erst im Winter will man sich erneut mit der Frage befassen. Denn schon jetzt schlagen die Kosten eines Studiums in Hagen für Zustellungsgebühren und Dozenten mit etwa 250 Euro pro Semester zu Buche. Weitergehend will man die Studierenden vorerst nicht belasten.