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Archiv-Artikel

Erst Herz, dann Finesse

Mit Glück gewinnen die New England Patriots gegen die Carolina Panthers die Super Bowl im American Football, die nur zu Beginn zur allseits befürchteten beidseitigen Abwehrschlacht gerät

AUS HOUSTON SEBASTIAN MOLL

Football kann zweierlei sein. Ein athletisches, schnelles Spiel, mit zielgenauen Pässen und geschickten Läufen der Receiver und Running Backs; oder eine verbissene Rauferei, bei der der Ball sich nur zentimeterweise über das Spielfeld bewegt. Die Fans hatten sich vor der Super Bowl 2004 am Sonntag im texanischen Houston auf die zweite Version eingestellt, denn sowohl John Fox, Trainer der Carolina Panthers, als auch Bill Bellichick, Coach der New England Patriots, predigen vor allem harte und unnachgiebige Abwehrarbeit. Und darauf freute sich das Publikum: Steve, ein kleiner glatzköpfiger Mann aus Massachussetts, sagte etwa mit glühenden Augen vor dem Anpfiff: „Defensiver, harter Football ist der einzig wahre Football, denn er verlangt Herz.“

Steve und die anderen rund 71.000 Zuschauer kamen bei der hauchdünnen 29:32-Niederlage der Panthers in Houston zunächst auf ihre Kosten. Keine Mannschaft ließ der anderen Raum für Spielzüge. Brachial versuchten sich die Running Backs durch die gegnerischen Linien zu drücken, die Quarterbacks hatten unterdessen wenig zu tun. Bellichick, Sohn eines Footballtrainers bei der Marine, und Fox, Sohn eines Marineinfanteristen, schienen ihren Willen zu bekommen. Es war ein grausamer Stellungskrieg mit knirschenden Knochen und wenig Raumgewinn.

Doch die beiden Propheten der Härte, die durch ihr Vordringen bis ins Endspiel ihren Stil der gesamten Liga aufzuzwingen drohten, setzten sich letztlich doch nicht durch. Nach einem Touchdown der Patriots im zweiten Viertel brachen die Dämme, und das Spiel wurde zu einem Schlagabtausch der Quarterbacks – der Denker und Lenker – anstatt zu einem endlosen Geschubse der Kraftmeier. Jake Delhomme aus Carolina und Tom Brady aus New England stachelten sich gegenseitig zu Höchstleistungen an, ein Pass war schöner als der andere, ein Spielzug gewiefter als der nächste, und der Spielstand auf der Anzeigetafel kletterte in die Höhe.

Keine drei Minuten vor Schluss lagen die Panthers mit 22:29 im Hintertreffen, und trotzdem hatte Delhomme, wie er später sagte, keinen Zweifel daran, dass sein Carolina-Team eine Nachspielzeit erzwingen würden. Delhomme ist für seine Kaltschnäuzigkeit und Unbeugsamkeit berüchtigt. Sechs Jahre wartete er als Ersatzspieler auf der Bank, bis er zu Beginn dieser Saison seine Chance bekam. Er nutzte sie derart brillant, dass er den Start-Quarterback seiner Mannschaft, Rodney Peete, auf Anhieb verdrängte. Acht Mal bog er seither ein Spiel seiner Mannschaft im letzten Augenblick um: „Es ist wie im Leben, man darf nie aufgeben und man muss Geduld haben“, tat er nach dem Spiel seine Philosophie kund, und man nahm sie dem 28 Jahre alten Mann aus Breaux Bridge, Louisiana unbesehen ab.

Zumal er auch diesmal wieder eiskalt blieb: anderthalb Minuten vor Schluss fand er im Getümmel seinen Mitspieler Ricky Proehl, der den Football zum Ausgleich über die Linie trug. Die Verlängerung schien sicher, doch dann kam der schwärzeste Augenblick in der Karriere des sonst so sicheren Panthers-Kickers John Kasay. Gerade hatte er mit dem souverän verwandelten Extrapunkt nach Proehls Touchdown den Ausgleich hergestellt, da verzog er den anschließenden Placekick jämmerlich. Beim Versuch, den Ball möglichst weit in die Hälfte der Patriots zu befördern, verrutschte ihm das Ei und flog ins Seitenaus. Das bedeutete nichts anderes, als dass New England seinen letzten Spielzug weit vorn an der eigenen 40-Yard-Linie starten durfte – da den Patriots die drei Punkte für ein Field Goal genügten, praktisch die Entscheidung. „Was für ein gigantischer Fehler“, staunte Patriots-Receiver Deion Branch später. Mit zwei Pässen brachte Tom Brady den Ball so nahe an die Endzone der Panthers, dass Kicker Adam Vinatieri nur noch 41 Yards zu überbrücken hatte. Vinatieri, am Anfang ganz uncharakteristisch mit zwei Versuchen gescheitert, trat den Ball sicher durch die Torstangen – genauso wie er es schon vor zwei Jahren zum Sieg der Patriots in den letzten Sekunden der Super Bowl gegen die St. Louis Rams getan hatte.

Delhomme sowie seine Panthers sackten in sich zusammen. „Ich weiß nicht, ob ich in ein paar Tagen sagen kann, dies war die größte Saison meiner Karriere“, sagte Delhomme Minuten später, in Badelatschen mit hängenden Schultern auf einem Hocker sitzend. „Im Moment kann ich das beim besten Willen nicht so sehen.“

Der verdiente Stolz wird Delhomme bestimmt noch überkommen. Er war – zusammen mit Tom Brady, der zum zweiten Mal nach 2001 zum wertvollsten Spieler der Super Bowl gewählt wurde – der Star eines spektakulären Spiels. Die Pässe von Delhomme und Brady entlockten den 71.000 Kehlen Schreie der Begeisterung. Football kann doch mehr sein als eine polternde Feier der Gewalt. Den harten Männern am Spielfeldrand zum Trotz.