Ernst Ulrich von Weizsäcker im Interview: Das Volk will es nicht hören

Wo liegt der Fehler, Ernst Ulrich von Weizsäcker, dass Klimapolitik bis heute nicht ernsthaft betrieben wird?

»Es braucht systematische Klima-Außenpolitik«: von Weizsäcker an seinem Schreibtisch Foto: Lena Giovanazzi

taz FUTURZWEI: Lieber Herr von Weizsäcker, unser Titelthema heißt Finde den Fehler. Auf dem Cover sieht man ein Auto, das unter Wasser steht, und es ist offensichtlich, dass der Fehler darin besteht, Klimapolitik und Klima-Adaption ignoriert zu haben. Die Frage ist aber auch: Was haben Sie falsch gemacht, dass Sie seit Jahrzehnten für die notwendige Transformation arbeiten und bis heute im Verhältnis zur Radikalität der Klimakrise viel zu wenig passiert ist?

Der Mann:

Unter anderem Gründungspräsident des Wuppertal Institut für Umwelt, Klima, Energie, Bundestagsabgeordneter der SPD in den rot-grünen Jahren (1998–2005) und »Vater der Ökosteuer«, Leiter des Club of Rome (2012–2018).

Geboren 1939 in Zürich, lebt in Emmendingen, Baden-Württemberg. Sohn des Kernphysikers und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker, Neffe des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker.

Das Werk:

Zentral genannt sei: Faktor Fünf: Die Formel für nachhaltiges Wachstum (2010), eine Weiterentwicklung von Faktor Vier: Doppelter Wohlstand – halbierter Naturverbrauch« (1995, mit Amory und Hunter Lovins).

Der Grundgedanke ist eine Steigerung des Wohlstands durch Steigerung der Ressourcenproduktivität, also fünfmal so viel Ertrag wie heute für die gleiche Menge Energie oder genauso viel Ertrag wie heute mit einem Fünftel Energie. Damit es auch ökonomisch funktioniert, muss Energie teurer werden, was nur durch Politik, nicht durch den Markt geregelt werden kann. Durch die enormen Effizienzgewinne rechnen sich die gestiegenen Preise für CO2 und Rohstoffe und sind auch kalkulierbar für Investoren.

Ernst Ulrich von Weizsäcker: Jeder macht Fehler. Ein Klimawissenschaftler, als der ich mich zeitweise gefühlt habe, hat erstmal den Fehler gemacht, zu glauben, dass seine Einsichten populär seien. Wir dachten: Wir haben jetzt die Zusammenhänge physikalisch einigermaßen erklärt. Wir können uns auch vorstellen, wie die Lösungen ökonomisch und technologisch aussehen. Das müsste doch eigentlich ganz gut ankommen. Das war ein dicker Fehler. Da waren wir naiv. Trotzdem: Wenn wir das damals nicht gesagt hätten, dann würden die Leute heute wieder bei null anfangen, dann wären Jahrzehnte verloren gegangen. Insofern habe ich da kein schlechtes Gewissen.

Wie sehen Sie die klimapolitische Dimension des Wahlkampfs?

Der große Bericht des Weltklimarates vom 9. August bringt neuen Sprengstoff. Alle Parteien (bis auf die rückständige AfD) beteuern ihre Entschlossenheit, das Klima zu schützen. Auch vorher schon gab es echte politische Fortschritte. Wenn man vor zehn Jahren so ein entsetzliches Unglückswetter wie jetzt im Juli gehabt hätte, wäre die einzige Reaktion in der Öffentlichkeit gewesen: Da muss man die Unfallhilfe und das Technische Hilfswerk aktivieren. In diesem Sommer haben alle sofort dazu gesagt, dass man daran sehe, wie wichtig das Thema Klima sei. Das hat sich besonders innerhalb der letzten drei Jahre sehr verändert, und daran hat natürlich Fridays for Future ein ganz großes Verdienst.

Aber die Parteien haben sich ja doch relativ schnell eingeschossen auf das Thema Katastrophenschutz und eben nicht Klimapolitik?

Ja, das würde ich aber nicht den Politikern übel nehmen, sondern dem Volk. Ich habe vor einiger Zeit mal ein neues Substantiv geprägt, die »Jetzt-Besoffenheit«. Das ist kein Politiker-Phänomen, sondern ein Volks-Phänomen. Das hängt mit der Twitter-Psychologie zusammen. Was auf Twitter zwei Minuten alt ist, das ist Mittelalter, das gibt es schon fast nicht mehr. Es muss immer jetzt sein, das ist die Kultur. Und da ist natürlich eine Sache wie Klima mit Zeiträumen von 30, 50 und mehr Jahren völlig uninteressant.

»Volksphänomen Jetzt-Besoffenheit«: Ernst Ulrich von Weizsäcker, Ex-Leiter des Club of Rome, vor seinem Haus in Emmendingen Foto: Lena Giovanazzi

Diese »Jetzt-Besoffenheit«, inklusive unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung und Hyperkonsum, steht im Mittelpunkt der Problemlagen, darauf können wir uns einigen. Aber wenn man wie Sie 40, 50 Jahre an der vordersten Front der richtigen Überlegungen ist, sehen Sie denn wirklich einen Fortschritt, wie er notwendig und geboten wäre?

Natürlich nicht. Ich sage nur: Immerhin ist die Wahrnehmung jetzt so, dass Klima eine sehr relevante Größe ist, auf die man reagieren muss. Aber natürlich müsste man deutlich rascher handeln, wenn man das Klimaproblem wirklich ernst nähme. Das Problem ist, dass bei etwa drei Viertel der Menschheit davon nicht im Entferntesten die Rede sein kann. Für den Durchschnitts-Zeitungsleser ist das Thema Klima ziemlich weit weg. Politikerinnen und Politiker aus der Gruppe der 77 ...

Klimapolitik zur Linderung der Erderhitzung ist eine zentrale und hochkomplexe Zukunftsfrage, weil sie Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Außenpolitik und vieles mehr beinhaltet und die alterprobten Lösungen nicht mehr greifen.

Die Unter-2 Grad-Richtung bedeutet einen radikalen Pfadwechsel, von dem aber die Politiker – vermutlich zu Recht – annehmen, dass es dafür keine Mehrheit gibt. Deshalb bekennen sich die drei eine Koalition verhandelnden Parteien zwar alle zum „1,5 Grad-Pfad“ (ein offensichtlicher Euphemismus), aber zumindest zwei (SPD, FDP) sperren sich in den Koalitionsgesprächen, Maßnahmen zuzustimmen, die in der Summe die notwendige CO2-Reduktions ergeben würden.

Es könnte sein, dass SPD und FDP Klimapolitik weiterhin nicht als Kernaufgabe einer sogenannten „Fortschritts-Regierung“ verstehen, sondern als Orchideen-Bereich betrachten und an die Grünen delegieren, um ihnen den drohenden gesellschaftlichen Großkonflikt aufzuladen.

... ein loser Zusammenschluss von 134 Entwicklungs-Staaten ...

... sagen dann in den Vertragsstaatenkonferenzen: Jaja, Klimapolitik ist die Obsession des Nordens. In den Diskussionen für Klima sehe ich, dass die Gruppe der 77 in erster Linie interessiert ist an den versprochenen hundert Milliarden Dollar jährlich für die Anpassung an die Klimaveränderungen. »Die hat ja der Norden verschuldet, also soll der das auch zahlen. Die haben das Geld, wir haben es nicht:« Das ist etwa die Hälfte der Rhetorik bei den Vertragsstaatenkonferenzen. Wenn wir dann die Vertreter, zum Beispiel von Südamerika, fragen: Was macht ihr eigentlich in Sachen Klimaschutz? Also nicht in Anpassung an das Klima, sondern Klimaschutz, dann sagen die: Darum können wir uns im Moment noch nicht kümmern. Da müssten wir erst einmal so reich werden wie ihr. Das ist eine recht typische Antwort, und das betrifft tendenziell 80 Prozent der Weltbevölkerung.

Mit dem Verweis auf die globale Blockade wiegeln politische Bremser auch ernsthafte Klimapolitik in Deutschland ab.

Richtig, das ist faul. Ich finde es nötig, dass wir in Deutschland versuchen, eine Art von Vorbild sein, um zu zeigen, dass beträchtlicher Wohlstand mit strammem Klimaschutz völlig einhergehen kann. Denn die Entschuldigung der Klimaleugner ist doch immer: Wir können natürlich auch über Klima schwatzen so wie ihr, aber dazu brauchen wir erstmal Wohlstand. Das beißt sich doch.

Wie argumentieren Sie?

Erstmal sage ich mir: Die Geschichte der fossilen Verbrennungen ist etwa zweihundert Jahre alt. Diese Geschichte kann man nicht als gerecht bezeichnen. Den Kohle-Habern, Öl-Habern und Gas-Habern ging es wahnsinnig gut. Man denke nur an die deutschen Kohleflöze. Wenn aber deshalb für die Gruppe der 77 das Thema Gerechtigkeit zentral ist, was ich denen vollständig zugestehe, dann muss man ihnen sagen: Dann habt ihr erst recht allen Grund, die Ungerechtigkeit des Fossil-Zeitalters zu überwinden.

Auch linke Parteien verteidigen das Fossil-Zeitalter gern mit dem Gerechtigkeitsargument im Hier und Jetzt.

Dies ist ein historischer Denkfehler. Die erneuerbaren Energien, insbesondere die Photovoltaik, können durch die Technologieentwicklung, die uns jetzt zur Verfügung steht, sehr viel mehr Gerechtigkeit bringen als die Fossil-Technik. Da müssen wir allerdings politisch dafür sorgen, dass diejenigen Länder, die am stärksten unter ihrer Armut leiden, möglichst rasch die erneuerbaren Energien bekommen, speziell Photovoltaik, und dass im Übrigen auch noch die Erhöhung der Energieeffizienz drankommt. Das ist viel besser als »Kohle für die Armen«.

Auch Ihre Partei, die SPD, kritisiert die Wachstumslogik nicht.

Das ist ein bisschen unterschiedlich. Natürlich spielt das Thema Arbeitsplätze eine große Rolle. Aber gleichzeitig haben wir mit Hubertus Heil einen Arbeitsminister, der dafür sorgt, dass es Kurzarbeitergeld gibt, dass die Leute weniger arbeiten dürfen und trotzdem ein ganz vernünftiges Auskommen haben. Übrigens hat Olaf Scholz das damals als Arbeitsminister während der Finanzkrise 2009 in die Welt gesetzt mit der tollen Folge, dass deutsche Betriebe damals praktisch niemand entlassen haben. Während die Amerikaner – hire and fire – sofort Millionen Leute rausgeschmissen haben. Wir hatten genau das Richtige gemacht mit der Verminderung des Arbeitsvolumens.

Aber nicht aus ökologischen Gründen.

Richtig, das waren hauptsächlich ökonomische.

Foto: Lena Giovanazzi

Und nun in der Pandemie halt auch. Was die grundsätzlichen gesellschaftspolitischen Parameter angeht, das Naturverhältnis und den wirtschaftlichen Stoffwechsel, ist die Sozialdemokratie noch ganz 20. Jahrhundert.

Das sehe ich völlig anders. Als das Bundesverfassungsgericht das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung abgelehnt hat, war diejenige, die am lautesten gejubelt hat, die SPD-Umweltministerin Svenja Schulze. Sie hatte das, was das BVG gefordert hat, schon in ihrem ersten Entwurf drin. Aber im Wirtschaftsrat der CDU war das nicht durchsetzbar.

Die einen sagen, dass die Transformation gegen die CDU nicht gehen kann, die anderen, dass sie mit der CDU nicht gehen kann. Wie sehen Sie's?

Die CDU hatte bessere Tage, zum Beispiel, in der Nachkriegszeit europäisch zu denken statt deutsch zu denken. Oder aufbauend auf die katholische Soziallehre die soziale Marktwirtschaft zur Staatsdoktrin zu machen. Großartig! Trotzdem ist der Wirtschaftsrat doch eine bestimmende Größe der heutigen CDU, und der hat anscheinend bisher noch kein ernsthaftes Interesse an Klimaneutralität, sondern eher an internationaler Wettbewerbsfähigkeit in der falschen Arena. Von daher bin ich auch eher skeptisch.

»Die rot-grüne Bundesregierung von 1998 bis 2005 war die ökologischste Regierung von Nachkriegsdeutschland. Man denke nur an Hermann Scheers EEG-Gesetz.« Ernst Ulrich von Weizsäcker

Wir sind skeptisch, was die SPD angeht.

Die rot-grüne Koalition von 1998 bis 2005 war die ökologischste Regierung von Nachkriegsdeutschland. Man denke nur an das EEG, vom SPD-Politiker Hermann Scheer aufgelegt. Übrigens im Gefolge des Einspeisungsgesetzes des CDU-Politikers Klaus Töpfer!

Der Budget-Ansatz, den Sie stark vertreten, kommt bei der SPD auch nicht vor.

Er kommt in keinem Wahlprogramm vor. Auch bei den Grünen nicht.

Können Sie den Budget-Ansatz kurz und prägnant erklären?

Alle Länder der Welt bekommen ein pro Kopf der Bevölkerung gleich großes Anrecht auf Emissionen zugeteilt. Da die alten Industrieländer ihr Budget weitgehend aufgebraucht haben, müssen sie jetzt in den Entwicklungsländern zusätzliche Emissionsrechte kaufen. Dadurch wird es für Entwicklungsländer sofort lukrativ, den Übergang zu erneuerbaren Energien und Energieeffizienz zu beschleunigen und Teile ihres Budgets an den Norden zu verkaufen.

Warum lehnen ihn alle Parteien ab?

Der Budget-Ansatz wird nicht abgelehnt, sondern hinausgeschoben. Man will keinen Alleingang. Russen und Amerikaner und auch Chinesen machen nicht mit. Vielleicht sollten wir uns mal an den Alleingang der Japaner aus den 70ern und 80er-Jahren erinnern. In der Ölkrise hat Japan die Energiepreise etwa doppelt so teuer werden lassen wie in allen Konkurrenzländern. Und wurde zum Liebling der Börsen und der Investoren. Der Budget-Ansatz könnte eine ungeheure Beschleunigung der klimafreundlichen Technologien auslösen.

Und dennoch ist der Budget-Ansatz politisch chancenlos?

Einige Länder machen vorläufig noch nicht mit: nämlich die Länder, die vom Verkauf fossiler Brennstoffe leben, also Saudi-Arabien, Russland, Kasachstan und noch ein paar andere. Man müsste also mit einer »Koalition der Willigen« anfangen. Im Übrigen gibt es neuerdings sehr interessante Ideen, dass Saudi-Arabien langsam umschwenken könnte auf den Verkauf von grünem Wasserstoff statt Öl. Damit könnte man übrigens auch die Mobilität Richtung Klimafreundlichkeit bewegen – statt mit bloßer Elektrizität mit Brennstoffen, die auf grünem Wasserstoff basieren. Das wäre für die Entwicklungsländer viel attraktiver.

Inwiefern?

Während wir hier reden, fahren auf der Welt ungefähr 1,3 Milliarden Verbrennungsmotoren-Autos. 80 bis 90 Prozent der Eigentümer denken nicht im Traum daran, ihr Vehikel zu verschrotten und stattdessen ein Elektroauto aus Deutschland zu kaufen. Mit grünem Wasserstoff, insbesondere aus den Sonnenregionen der Erde, wo heute schon die Kilowattstunde Photovoltaik nur noch einen Eurocent kostet, kriegt man einen preisäquivalenten, klimaneutralen Verbrennungsmotor. Wasserstoff und CO2 kann man zu Methanol verschmelzen und damit den Verbrenner füttern.

Ist grüner Wasserstoff nicht eher der neueste Traum-Hype der Wahlprogramme? Das finden alle toll, ohne sich die Dimension klarzumachen, die dafür notwendig ist, um Stahlwerke zu betreiben.

Wer sagt denn, dass der gesamte grüne Wasserstoff auf deutschem Grund und Boden erzeugt werden muss? Auch Öl produzieren wir nicht auf deutschem Boden und Zuckerrohr auch nicht und Bananen auch nicht. Wenn die Araber uns grünen Wasserstoff oder klimaneutrales Methanol statt Öl verkaufen, haben beide den Gewinn. In Deutschland sind wir bisher erst bei ungefähr fünf Eurocent pro Kilowattstunde, und das ist für die Kalkulierer in der Stahlbranche noch zu viel, das kann man verstehen. Aber bei einem Eurocent pro Kilowattstunde geht die Rechnung bereits auf.

Herr von Weizsäcker, wo ist der grundlegende Fehler im Einwirken auf die politische Klasse? Wenn es Fridays for Future brauchte für ein Klimaschutzpaketchen der Bundesregierung im September 2019, dann ist – mit allem Respekt – selbst die Einwirkung von Leuten wie Ihnen doch bisher eher gering. Was ist ein anderer Hebel, damit mehr geht?

2019 hatte sich die schwarz-rote Koalition einiges in Sachen Klima ausgedacht, was relativ ehrgeizig war. Dann kamen die Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg mit einem Sprung nach oben für die AfD, deren Hauptthema war: Hört mal endlich auf mit diesem Klima-Gewäsch! Und von dem Moment an sah sich zumindest die CDU/CSU-Fraktion genötigt, gegen besseres Wissen zurückzufahren. Das heißt also – das darf man in der Demokratie nicht laut sagen, es ist aber leider wahr –, manchmal ist das Volk schuld an der Langsamkeit, genauer genommen sehr viele Wählerinnen und Wähler.

Fridays for Future wirken sich bei diesen Wahlen auch nicht aus, obwohl der Anteil an ihrer Alterskohorte, der auf der Straße ist, exorbitant hoch war – viel höher als 1968.

Ich will mich nicht auf die Tatsache zurückziehen, dass etwa die Hälfte dieser jungen Generation noch gar keine Wahlberechtigung hatte. Ich habe mich jetzt auch mit Greta Thunberg angefreundet. Sie ist einfach ganz großartig. Aber in Bezug auf die Wahlberechtigten hat das offenbar noch einen viel zu geringen Einfluss gehabt. Aber sie waren natürlich für Leute wie Eckart von Hirschhausen eines der Motive, Scientists for Future zu gründen. Dann gibt es ja auch noch Omas for Future. Das sind alles Menschen, die gemerkt haben, dass diese junge Generation einfach Recht hat und dass man versuchen muss, dieses in die Breite der Politik zu bringen. In unserem Club-of-Rome-Bericht Wir sind dran sprechen wir von der Notwendigkeit einer neuen Aufklärung, einer Aufklärung, die die große ökologische Krise ernstnimmt. Allerdings: Die alte Aufklärung hat von Descartes bis zur Französischen Revolution zweihundert Jahre gebraucht, bis sie die Politik umgekrempelt hat. Wir haben leider nicht mehr zweihundert Jahre Zeit.

Die nächste Aufklärung muss tatsächlich die über das Naturverhältnis sein. Und damit nochmal zu Ihrer Partei: Das Wahlprogramm der SPD ist doch in Bezug auf Klima einfach zu wenig?

Ich freue mich über jeden, dem das zu wenig ist. Immerhin ist es, soviel ich weiß, das erste Bundestagswahlprogramm, in dem das Thema Klima eine sehr prominente Rolle hat. Das Programm der Grünen kam später und geht noch weiter.

Auf der Ebene der Formulierung von Zielen sind sie ja alle inzwischen super. Aber wie kriegt man ein anderes wirtschaftspolitisches Paradigma in die öffentliche Debatte hinein? Der Schlüssel würde ja darin bestehen, dass sich die Ökos mehr für Ökonomie interessieren und die Ökonomen mehr für den Zustand der Welt.

Ganz richtig: Da ist ein Teil der Bringschuld unserer Generation. Das habe ich vor über 15 Jahren mit dem Buch Faktor Vier: Doppelter Wohlstand, halbierter Naturverbrauch versucht. Amory Lovins und ich haben nachgewiesen, dass eine Vervierfachung der Produktivität von Energie und Rohstoffen und Trinkwasser technisch ohne Weiteres möglich ist, dass aber zurzeit noch jährlich zwischen 400 und 900 Milliarden Dollar weltweit für die Subventionierung des fossilen Verbrennungsverbrauchs ausgegeben werden.

»Ich freu mich über jeden, dem das SPD-Wahlprogramm zu wenig ist«: von Weizsäcker vor seinem Haus Foto: Lena Giovanazzi

Das heißt?

Das heißt: Politisch populäre Maßnahmen – Subventionen sind fast immer populär! – verhindern strategisch, dass sowas wie ein Faktor vier Wirklichkeit wird. Energieverbilligung ist weltweit ein Teil der politischen Realität. Das wird aber in den ökologischen Diskussionen nie erwähnt, weil das so wahnsinnig peinlich ist. Natürlich kann man den jeweils amtierenden Politikern den Vorwurf machen, dass sie diese Torheit nicht ständig dem Volk mitteilen. Aber das Volk will es auch nicht hören!

Wir würden gern beschwören, dass die Bundestagswahl eine entscheidende Wahl sei und dass es jetzt darum gehe, ob endlich ernsthafte Klimapolitik kommt oder nicht. Aber ist das nicht eine Schimäre und zwar unabhängig von einer politischen Konstellation?

Nun, Deutschland ist nicht die Welt. Unser Land ist für zwei Prozent der Treibhausgasemissionen der Welt zuständig.

Aber das sagt FDP-Chef Lindner auch immer.

Das ist richtig, aber er benutzt das, um den Prozess auf langsam zu trimmen. Ich benutze das, um bei einem Schnell-Trimmen bei der Wahrheit zu bleiben und dann zu sagen: Deswegen ist es erforderlich, eine systematische Klima-Außenpolitik zu machen und nicht eine Anschwärzungs-Politik gegenüber den Rivalen bei der Bundestagswahl. Das ändert nichts an der grausamen Wahrheit, dass wir die anderen 98 Prozent Treibhausgasemissionen mit adressieren müssen, sonst haben wir verloren.

Was wäre Klima-Außenpolitik?

Der Kern ist der Budget-Ansatz, den ich genannt habe, als internationale Strategie: Aber ein Stellungskrieg Europas gegen die Entwicklungsländer und unwillige Großverschmutzer wie Russland, China, USA oder Indien bringt gar nichts. Mit dem Budget-Ansatz wäre es zum ersten Mal in der Geschichte für einen der größten Zubauer von zusätzlicher Kohleverbrennung in der Welt, nämlich Indien, lukrativer, diesen Quatsch zu stoppen, den Übergang auf erneuerbare Energien und Energieeffizienz zu beschleunigen und die dadurch frei werdenden Lizenzen an uns Europäer zu verkaufen. Ohne diesen Budget-Ansatz hat der indische Premierminister und Wirtschaftsminister null Interesse, mit dem Kohleverbrennungs-Quatsch aufzuhören. Für den ist das immer noch eine Lizenz zum Gelddrucken. Solange wir da nicht rankommen, haben wir verloren.

Was heißt konkret: Dann haben wir verloren?

Erstens: Unwetter wie kürzlich in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen und Waldbrände wie in den Mittelmeerländern würden Alltag werden. Zweitens: Küstenstädte wären vom Untergang bedroht, wenn die Eismasse von Grönland oder die westantarktische Eisplatte nicht von oben nach unten abschmilzt, sondern mechanisch ins Meer rutscht. Ähnliches hat es beim Ende der Würmeiszeit auch gegeben. Dann steigt der Meeresspiegel um drei Meter, fünf Meter, sieben Meter oder bis zu fünfzehn Meter. Bangkok wäre dann sowieso schon längst weg. Aber auch für Hamburg wäre die Situation nicht gut, für Amsterdam und für Venedig sowieso nicht.

Wie groß sehen Sie die Chance, dass wir nicht verloren sind?

Das ist eine wahnsinnig schwierige und wahnsinnig wichtige Frage. Die Lösung des Problems hat mindestens drei wesentliche Komponenten. Das eine ist die rein technologische, also klimaneutrale Technologien. Das zweite ist, diese Technologien lukrativ zu machen. Das heißt, alle Subventionen ins Gegenteil restlos stoppen und das dadurch frei werdende Geld in die klimaneutrale Technologie stecken. Und drittens – das geht nun tiefer und dauert länger – eine neue Aufklärung, die weit über das hinausgeht, was in den Tagesschauen oder Zeitungen berichtet wird oder worüber in den Klimaverhandlungen heute verhandelt wird. Es braucht ein Bereitmachung unserer Zivilisation – keineswegs nur die deutschsprachige –, um die Klimaneutralität und die Vermeidung von ganz großen Unglücken zu einer der wichtigsten Aufgaben der Politik zu machen.

»Wir brauchen eine neue Aufklärung. Das Leben einer bestimmten Kultur geht zu Ende.« Ernst Ulrich von Weizsäcker

Würde so eine neue Aufklärung sich auch mit Kategorien wie der Endlichkeit konfrontieren müssen? Die alte Aufklärung hat ja kein Konzept von Endlichkeit.

Das ist ein exzellenter Punkt, gratuliere. Wir haben in unserem Gemüt und unserer Geschichte den permanenten Versuch, die Endlichkeit zu verdrängen, obwohl das Leben des Menschen selbstverständlich zu Ende geht. Das Leben einer bestimmten Kultur geht zu Ende. Das Leben von Doktrinen, von Wachstum, all das geht zu Ende. Wenn man das akzeptiert, dann ist die Anschlussfrage: Wie kann man positiv besetzte Emotionen mit dieser Endlichkeit vereinbaren? Das ist nicht ganz trivial. Bisher haben wir eine systemhafte Verheiratung der Unendlichkeit mit dem Glücksempfinden.

Interview: PETER UNFRIED und HARALD WELZER

Dieser Beitrag ist in taz FUTURZWEI N°18 erschienen.

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