Ermittlung gegen NS-Verbrechen: Lebende Täter gesucht
Die meisten KZ-Wachleute blieben unbehelligt. Jetzt wird es möglich, sie wegen Beihilfe zum Mord anzuklagen. Juristen suchen auch in Lateinamerika.
BERLIN taz | Kurt Schrimm ist sich sicher: „Das ist nicht das Ende, das ist erst der Anfang“, sagt der Leitende Oberstaatsanwalt. Viele Deutsche, auch manche Historiker, hatten geglaubt, fast 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges könnten Nazi-Verbrechen kaum noch verfolgt werden.
Doch jetzt hat der Chef der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen im baden-württembergischen Ludwigsburg einen bemerkenswerten Fahndungserfolg verkündet: Seine Behörde will in den nächsten Wochen gegen exakt 50 ehemalige SS-Aufseher des Vernichtungslagers Auschwitz Vorermittlungen einleiten, sagte Schrimm der taz. „Uns liegt eine Liste aller in Auschwitz tätigen Aufseher vor. Wir haben überprüft, wer von denen noch am Leben ist.“ Der Vorwurf lautet auf Beihilfe zum Mord.
Alle 50 leben in Deutschland und sind heute um die 90 Jahre alt. Ihre Namen waren zwar schon lange Zeit bekannt, aber die Ermittler hatten bisher keine Handhabe gegen sie. Der Grund: Jedem einzelnen SS-Aufseher musste die konkrete Beteiligung an einem Mordtat nachgewiesen werden. Weil die meisten Opfer nicht überlebten, fehlte es immer wieder an den notwendigen Beweisen. Und: „Kein einziger“, sagt Schrimm, habe ihm gegenüber jemals eine Tat zugegeben.
Zum Gedenken an die Opfer des Holocaust treffen sich am 8. April Jugendliche aus aller Welt zum „Marsch der Lebenden“. Sie laufen drei Kilometer vom ehemaligen KZ Auschwitz I bis zum ehemaligen KZ Auschwitz II (Birkenau). Der Marsch gegen das Vergessen fand erstmals vor 25 Jahren statt, über 150.000 junge Juden und Angehörige anderer Religionen nahmen bisher teil. 2013 wird auch des 70. Jahrestags des Aufstands im Warschauer Ghetto gedacht – und besonders der Kinder, die vor der Vernichtung gerettet wurden. (li)
Jetzt hat sich die rechtliche Lage verändert. Seit dem Urteil gegen John Demjanjuk im Mai 2011 ist der individuelle Beweis einer Mordbeteiligung nicht mehr zwingend notwendig. Das Landgericht München verurteilte den ukrainischstämmigen Wachmann des Vernichtungslagers Sobibor vor zwei Jahren allein aufgrund seiner Anwesenheit in dem Lager, das einzig zur Ermordung von Juden errichtet worden war.
Der Dienstausweis als Beweisstück
Zentrales Beweisstück dafür war ein Dienstausweis, der Demjanjuk überführte, am 27. März 1943 nach Sobibor abkommandiert worden zu sein. Das Gericht sprach Demjanjuk der Beihilfe zum Mord in 28.060 Fällen schuldig und verurteilte ihn zu fünf Jahren Haft. Er starb im März 2012 in einem oberbayerischen Pflegeheim.
Die nun anstehenden Ermittlungen gegen die mutmaßlichen Auschwitz-Täter erinnern an ein anderes Verfahren, das vor genau 50 Jahren seinen Anfang nahm: Am 16. April 1963 wurde Anklage gegen 20 Männer erhoben. Dazu gehörten Wilhelm Boger von der Lager-Gestapo, der Apotheker Victor Capesius und der Rapportführer Oswald Kaduk. Keiner von ihnen gestand seine Schuld. Das Verfahren endete mit lebenslangen und langen Haftstrafen. Drei Angeklagte wurden damals freigesprochen. Auch jener erste Prozess markierte eine Wende in der juristischen Aufarbeitung von NS-Verbrechen.
Die angekündigten Vorermittlungen im Fall der Auschwitz-Wachmänner bedeuten indes keineswegs, dass die mutmaßlichen Täter auch verurteilt werden – selbst wenn der konkrete Beweis ihrer Anwesenheit im größten Vernichtungslager der Nazis erbracht worden ist. Die 1958 gegründete Zentrale Stelle hat, wie ihr Behördenleiter Schrimm bedauert, keine eigene Anklagekompetenz.
Die Fälle müssen also an die zuständigen Staatsanwaltschaften abgegeben werden. Diese lassen sich mit ihren Ermittlungen gerne auch mal länger Zeit. Angesichts des Alters der Verdächtigen steht zu befürchten, dass viele von ihnen sterben, bevor es zu einer Anklage kommt. Und selbst wenn diese dann noch am Leben sind, muss zunächst überprüft werden, ob die Greise noch verhandlungsfähig sind.
Die Haftstrafe ist nicht das Ziel
Doch um eine hohe Haftstrafe geht es Kurt Schrimm nicht unbedingt. „Ob ein 94-Jähriger heute noch ins Gefängnis kommt, kann nicht Hauptziel unserer Aufgabe sein“, sagt er. Es gehe um die Aufklärung historischer Prozesse. Schrimm: „Solange es noch Überlebende gibt, solange noch Opfer leben, dürfen wir nicht sagen, dass uns das Ganze nichts mehr angeht.“
Die Zentrale Stelle plant auch, die Personaldaten aus sämtlichen deutschen Vernichtungslagern daraufhin zu untersuchen, wer unter den damals eingesetzten Männern noch am Leben ist. Und das ist längst nicht alles: Erst kürzlich ist Schrimm von einer Dienstreise aus Brasilien zurückgekehrt, wo nun alle Einwandererakten im Internet einsehbar sind. Jeder habe gewusst, dass viele Nazi-Verbrecher nach Südamerika ausgewandert sind.
Schrimm: „Es kam aber früher niemand auf die Idee, das dort systematisch zu ergründen.“ Die Ludwigsburger wollen künftig auch in den Einwandererakten Brasiliens, Chiles und Argentiniens nach möglichen NS-Verbrechern suchen.
Zugleich durchforsten Schrimms Mitarbeiter in osteuropäischen Archiven Gerichtsakten aus der unmittelbaren Nachkriegszeit. Es geht um deutsche Kollaborateure und Kriegsgefangene. Schrimm: „Häufig wissen wir bei Mordaktionen sehr genau, wer verantwortlich war, aber wir kennen die Schützen nicht. Jetzt suchen wir nach Aussagen von Leuten, die damals bezeugt haben, sie hätten den Müller oder den Maier bei der Tat gesehen.“
Eigentlich war vorgesehen, die Zentrale Stelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen mit der Pensionierung ihres Chefs nächstes Jahr zu schließen. Schrimm: „Die Umstände haben sich geändert. Ich meine, die Zentrale Stelle wird über das Jahr 2014 bestehen bleiben.“
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