■ Erinnerungen Begegnung mit „meinem“ Deserteur Karl L.: Die Wut war vorbei
„Daß ich den Rest meines Lebens mit nur noch einem Bein und einer steifen Hand verbringe, verdanke ich einem Deserteur: Karl L. Auf einem Patrouillengang am 7. August 1944 südlich von Le Havre hatte er zusammen mit zwei Obergefreiten die Aufgabe, mir den Rücken abzusichern, im Schützengraben, an sich keine allzu bedrohliche Aufgabe. Noch dazu, wo es relativ ruhig war an der Front. Irgendwann, als ich mit der Hand nach hinten das Zeichen zum Nachkommen gab, bemerkte ich, daß ich alleine war. Da es weder Schüsse noch Minenexplosionen gegeben hatte, konnte den dreien nichts zugestoßen sein.
Ich hetzte zurück, als das Granatfeuer begann und der Graben voll getroffen wurde – der Rückweg war mir versperrt. Wenn man zu mehreren ist, haut man sich durch, indem man sich Feuerschutz geben läßt und dann über die Einsturzstelle klettert. Ich aber war jetzt alleine, mußte heraus und wurde so voll von den Gewehren einer feindlichen Patrouille erwischt.
Natürlich weiß ich nicht, was passiert wäre, hätten mich die drei nicht verlassen, vielleicht wäre ich wenig später ... umgekommen. So jedenfalls wurde ich nach Deutschland zurückgeschickt und überlebte. Doch mein Haß auf die drei war unvorstellbar, besonders wenn mich bei jedem Witterungswechsel die Amputationswunden wie verrückt schmerzten.
Mitte der 60er Jahre erfuhr ich vom Wohnort eines der dreien. Meine Frau fuhr hin und hörte, daß zwei der drei gar nicht hätten desertieren wollen, aber der dritte, Karl L., sie überredet hatte. (...) Möglicherweise durch meine Nachforschungen erfuhr auch Karl L. von mir und meldete sich eines Tages brieflich bei mir: er wolle mit mir sprechen. Hin- und hergerissen von der noch immer kochenden Wut und dem Rat meiner Freunde, keine Gewalttat zu begehen, lehnte ich mehrere Jahre lang ab. Anfang der achtziger Jahre aber trafen wir uns in einem Gasthaus nahe Dingolfing in Niederbayern. Karl L. traute sich zuerst gar nicht in meine Nähe, er sah erbärmlich aus, geradeso wie ich mir einen Halunken immer vorgestellt hatte. (...)
Als wir uns hinter einen mächtigen Tisch gesetzt hatten, ich auf der einen, er auf der anderen Seite, erzählte er mir, warum er alles getan hatte. Kameraden hatten ihm einige Wochen zuvor erzählt, daß sie über Verwandte im Heimaturlaub von grauenhaften Verbrechen in Konzentrationslagern erfahren hatten ... daß an manchen Stellen auch die Wehrmacht Hilfsdienste geleistet hatte. Da war in ihm der Entschluß gereift, sich nicht mehr an diesem Krieg zu beteiligen. Er suchte nach der Möglichkeit zur Desertion. Doch seine Absicht, sich einfach dem Dienst zu entziehen, gelang nicht, er wurde von den Amerikanern festgehalten. Die Moral, die hinter seinem Schritt stand, interessierte diese gar nicht, sie wollten nur wissen, wie sie unsere Stellung einnehmen konnten. ... er wurde gar verprügelt und man drohte, ihn an uns zurückzuschicken. Bis heute leidet er an Schlafstörungen, wurde vorübergehend Alkoholiker und kam auch beruflich nicht auf die Beine. Ich denke, er hat am Ende sicher nicht weniger gelitten als ich selbst an meinem abgeschossenen Bein. Meine Wut war vorbei (...)“ Max F.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen