Erinnerung im Kibbuz Givat Haim: Zurück in die Vergangenheit
In einem Kibbuz bei Tel Aviv haben sich die "Jeckes", deutsche Juden in Israel, im Gedenken an die Reichspogromnacht 1938 getroffen. Für viele eine schmerzhafte Erinnerung.
Jakob Hirsch wurde 1924 in Halberstadt geboren. Im Alter von vier Jahren zog er mit seiner Familie nach Berlin, 1935 mussten sie vor dem Nazi-Terror aus Deutschland flüchten. Sie erreichten Palästina. Jakob Hirsch arbeitete beim israelischen Äquivalent des Bundesrechnungshofs, stieg zum Staatssekretär auf. Später ging er in den Vorstand einer Bank. Heute ist der 85-jährige kahlköpfige Mann längst pensioniert.
Am 9. November 2009 geht Jakob Hirsch die wenigen Schritte von der ersten Reihe des Auditoriums zum Podium und spricht: "Der 9. November 1938 war der Anfang von Ende der Juden in Mitteleuropa", sagt er. "Dieses Datum zählt ebenso zur deutschen Geschichte wie der 9. November 1989, der Fall der Berliner Mauer." Und Hirsch erinnert daran, dass sein Onkel im Ghetto Theresienstadt ermordet wurde.
Etwa 250 ehemalige deutsche und österreichische Juden sind an diesem Tag in das Kibbuz Givat Haim nördlich von Tel Aviv gekommen. Sie sitzen auf den Rängen der hässlichen Versammlungshalle aus Beton. Einmal im Jahr, immer am 9. November, lädt die "Vereinigung von Israelis mitteleuropäischer Herkunft" zum Gedenken ein. Und Jahr für Jahr liegt nicht nur die Pogromnacht der Nazis immer weiter zurück. Auch die Jeckes, wie die früheren deutschen Juden in Israel genannt werden, werden immer älter. Längst sitzt nicht nur die Generation der Überlebenden hier zusammen, sondern auch deren Kinder, die in Tel Aviv, Haifa oder Jerusalem geboren wurden.
Da ist Michael Blasbalg, dessen Eltern in Berlin lebten. Seine Eltern flüchteten schon 1933 und er lernte Deutsch als seine zweite Muttersprache. Auch die Eltern von Joshua Shafir, der ebenso perfekt Deutsch beherrscht, stammen aus Berlin. Andere haben als Kinder den Nazi-Terror miterlebt, so wie der Herr am Mittagstisch im Speisesaal des Kibbuz, dem es erst 1941 mitten im Krieg gelang, über Rumänien illegal das britische Mandatsgebiet zu erreichen. Die meisten Jeckes flüchteten mit ihren Familien schon bald nach 1933 nach Palästina. Die wenigsten von ihnen waren überzeugte Zionisten, sondern fühlten sich als Deutsche. "Deutschland hat sie betrogen", sagt einer der Rednerinnen an diesem Tag dazu.
Der Gedenktag im Kibbuz, dem eine Gedenkstätte für das Ghetto Theresienstadt angeschlossen ist, ist für die Jeckes auch ein jährliches Wiedersehen. In der Pause stehen und sitzen sie zusammen, warten geduldig bei der Kaffeeausgabe und schwätzen miteinander. Zwischen ihnen allen wuselt Devorah Haberfeld, schmal, klein und mit feuerrotem kurzem Haar, herum, begrüßt hier einen Bekannten, umarmt dort einen Freund und scheint überhaupt jeden der Anwesenden persönlich zu kennen. Haberfeld ist die Chefin des Jeckes-Vereins. Auch sie, deren Eltern aus Wien stammen, gehört zur zweiten Generation und spricht selbst nur wenig Deutsch - eher eine Ausnahme.
Jakob Hirsch ist an diesem Tag im Kibbuz Givat Haim der Einzige, der den Mauerfall vor zwanzig Jahren überhaupt erwähnt. Doch daraus zu schlussfolgern, dass die Jeckes die Wiedervereinigung ablehnten, wäre grundfalsch. Sicher, vor 20 Jahren noch beherrschten Ängste vor einer neuen deutschen Großmacht die ehemaligen deutschen Juden. Heute ist das vergessen. Der 9. November 1989 ist für sie ein bedeutendes Datum, aber auch unvergleichlich unwichtig im Verhältnis zu dem, was sie selbst, ihre Großeltern und Eltern 71 Jahre früher erleben mussten. Sie sind keine deutschen Juden, sondern Vertriebene, die sich eine neue Heimat geschaffen haben, auf die sie zu Recht stolz sind. Die deutsche Kultur vom pünktlichen Beginn der Veranstaltung bis zur Rezitation deutscher Dichter steckt noch in ihnen, doch sie sind Israelis. Ganz selbstverständlich findet das Gedenken in hebräischer Sprache statt.
Micha Limor ist Chefredakteur der zweimonatlichen Zeitschrift der Jeckes namens Yakinton, übersetzt etwa Jeckeszeitung. Limor konnte nicht kommen, denn die Zeitung muss fertig werden. Der pensionierte Journalist ist in Israel geboren, doch seine Eltern haben das Jeckes-Gefühl an ihn vererbt. Yakinton ist wohl die letzte Zeitschrift der Welt, die bilingual auf Hebräisch und Deutsch erscheint. Limor berichtet, dass er vor einiger Zeit die Zahl der hebräischen Seiten erweitert und die deutschen verkürzt hat. Eine Leserbriefflut war die Folge. 4.500 Exemplare beträgt die Auflage von Yakinton, doch Limor schätzt, dass sie jeweils 20.000 Leser findet. In manchem Kibbuz, das nur ein Exemplar abonniert hat, geht die Zeitschrift von Hand zu Hand.
Die ihm nachfolgende Generation, berichtet Limor, habe kaum mehr Interesse an den deutschen Wurzeln ihrer Vorfahren und spricht kein Deutsch. Aber er registriert mit Freude, dass seine Enkel ihn heute fragen, woher die Familie eigentlich kommt.
An das Podium tritt jetzt Horst Zwi, der in seinem früheren Leben einmal Cohen hieß und 1931 in Berlin geboren wurde. Er berichtet: "Im November 1938 war ich siebeneinhalb Jahre alt. Wir wohnten in einem Berliner Haus im vierten Stock. Den Vater verschleppten die Nazis nach der Pogromnacht ins KZ Sachsenhausen. Er kam sechs Wochen später als gebrochener Mann zurück." Er erinnert an die Zeit ab 1941: "Wir mussten den Judenstern tragen. Die Schulen waren für Juden geschlossen. Die Erwachsenen leisteten Zwangsarbeit." Und er erinnert an den Tag, an dem er und seine Eltern in das Ghetto Theresienstadt deportiert wurden.
"Zwei SS-Männer kamen in den vierten Stock, und mein Herz zog sich furchtsam zusammen. Sie klopften: "Aufmachen!" Es erschienen zwei riesige Männer mit Stiefeln an den Füßen und SS-Abzeichen am Kragen. "Wie heißt du?" "Du hast fünf Minuten zum Packen." Die Eltern sind nicht daheim. "Ich nahm Zahnpasta, Seife und meine Mundharmonika. Der eine SS-Mann fragte, was ich denn mit der wolle. Und er befahl mir, etwas vorzuspielen. Ich spielte den Trauermarsch, und er weinte dabei."
Und plötzlich hat Horst Zwi, Jahrgang 1931, auf dem Podium im Kibbuz Givat Haim an diesem 9. November 2009 eine Mundharmonika in der Hand, führt sie zum Mund, und spielt. Den Trauermarsch. Die Töne kommen trotzig und in einem Rhythmus fast wie Marschmusik aus dem Instrument.
Er berichtet weiter: "Ich stand stramm. Der SS-Mann verlangte, dass ich ein weiteres Stück spielen sollte. Ich spielte die Lily Marleen "Vor der Kaserne, vor dem großen Tor …" Und wieder greift Horst Zwi im Kibbuz zu seiner Mundharmonika.
Die SS-Männer, erzählt Zwi danach, ließen sich erweichen. Er durfte nach den Eltern telefonieren und so lange warten, bis diese nach Hause kamen. Er spielte zwei Stunden lang für die SS. Und als die Familie den Lastwagen besteigen musste, auf dem Weg zur Deportation ins Ghetto Theresienstadt, waren die SS-Männer freundlich bemüht, ihnen dabei behilflich zu sein.
Er hat das Ghetto als einer von 14.000 Menschen überlebt. Etwa 135.000 Menschen kamen dort um oder wurden weiter in die Vernichtungslager verschleppt.
Avraham Frank aus Jerusalem, der 1934 ins Land kam, spricht danach das Kaddisch, das jüdische Totengebet.
Zwischen all den älteren, alten und uralten Menschen sitzt in der ersten Reihe der Versammlungshalle im Kibbuz Givat Haim eine junge Frau mit langem brünettem Haar. Sie trägt Jeans und einen Pullover. Sie heißt Johanna Jaspersen, ist 18 Jahre alt und kommt aus Bad Doberan. Sie geht zum Podium, sagt, dass es für sie nicht die richtigen Worte gebe, um auszudrücken, was passiert sei, und dass sie deshalb lieber schweigen wolle. Und schweigt einige Augenblicke lang. Dann verspricht sie, dass die Vergangenheit in Deutschland nicht vergessen werde. Johanna Jaspersen macht ihr freiwilliges soziales Jahr in Israel und betreut dort alte Jeckes in einem Elternheim in Haifa, wie die Seniorenheime genannt werden. Sie hat an diesem Tag schon Jakob Hirsch auf dem Weg zum Podium gestützt.
Großer Applaus für sie. Niemand unter den Jeckes käme auf die Idee, die jüngeren Deutschen für das verantwortlich zu machen, was die Älteren getan haben.
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