Erich Loests "Man ist ja keine Achtzig mehr": Und am Ende gibts Champagner für alle
Den 85-jährigen Schriftsteller Erich Loest bedrängt kein Thema mehr. Zwei Jahre lang hat er Tagebuch geführt und daraus das "Letztbuch" gemacht.
Warum setzt sich ein vielfach ausgezeichneter Autor mit 82 Jahren hin und verfasst nach Dutzenden von Romanen wie "Völkerschlachtdenkmal", "Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene" und "Nikolaikirche" noch ein Buch, obwohl ihn kein Thema mehr bedrängt, er stattdessen Probleme mit dem Herzen, den Augen, der Prostata hat?
Erich Loest schrieb zwischen August 2008 und September 2010 Tagebuch. "Man ist ja keine Achtzig mehr" heißt das Werk, das er "Letztbuch" nennt. So viel Eitelkeit, seinen eigenen Nachruf zu Lebzeiten zu schreiben, traut man dem Autor, der im Februar 85 Jahre alt wurde, nicht unbedingt zu.
Loest notiert, dass das Tagebuchschreiben auch therapeutische Züge trage. Dabei hat er nur das gemacht, was er seit Ewigkeiten macht: Seit er 1950 als Redakteur der Leipziger Volkszeitung gefeuert wurde, setzt er sich nach dem Frühstück an den Schreibtisch und schreibt.
Vater-Sohn-Kontakt nur vor Gericht
Der erste Tagebucheintrag ist heftig. Es ist ein Brief seines Sohnes Thomas, der nach "Lieber Vater" ohne Umschweife zur Sache kommt: "Wenn am 11.8.08 nicht Euro 2660,95 auf unserem Konto sind, werden wir den Titel vollstrecken lassen."
Es geht um den von Loest in Künzelsau gegründeten Linden-Verlag, der seit der Wende seinen Sitz in Leipzig hat und den er entgegen mehreren Warnungen in die Hände seines Sohnes gegeben hatte, mitsamt seinen Büchern. Bis heute begegnen sich Sohn und Vater, wenn überhaupt, vor Gericht.
Warum sich Loest darüber nicht getroffener zeigt, darüber kann man nur spekulieren. Als der Sohn sieben Jahre alt war, holte die Staatssicherheit die Eltern ab. Die Mutter kam nach Monaten frei, Erich Loest, überzeugter Kommunist, der sich nach dem Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 und dem blutigen Ungarnaufstand zu Entstalinisierung äußerte, saß siebeneinhalb Jahre im Zuchthaus in Bautzen.
Das "Letztbuch" liest sich wie eine Inventur, eine Soll- und Habenbilanz, eine Mischung aus alltäglichen Erlebnissen und Beobachtungen, aus Rückblicken und Erkenntnissen, aus Einblicken in die Leipziger Stadtpolitik und den Körper eines alten Mannes.
"Mir ist nach Bambule"
Der Ehrenbürger von Leipzig ist gern das Gewissen seines geliebten "Leibzsch", wo er nach seiner Ausreise 1981 in den Westen seit 1998 wieder lebt, bei seinen Freunden – und bei seinen Feinden, wie er kokett schreibt. Nicht selten überkommt ihn ein Gefühl von Aufruhr und Widerstand. "Mir ist nach Bambule".
Doch Loest ist auch ein Genießer. Stellenweise liest sich das Tagebuch wie ein Weinbrevier. Akribisch notiert er, mit wem er welchen Rebensaft getrunken hat und wie er war. Der erste Oberbürgermeister von Leipzig nach dem Ende der DDR bekommt einen 22 Jahre alten Eiswein, "der den gebührenden und erhofften Eindruck macht und geschmacklich das Treppchen zum Likör beschreitet".
Für einen Redakteur der Bild-Zeitung öffnet Loest eine 1,5-Literflasche Cabernet Sauvignon & Merlot aus Chile, "voll, sanft, süffig, charakterarm und damit geeignet, bei munterem Gespräch nebenbei weggepichelt zu werden".
Hosenkauf steht noch aus
Als er mit dem damaligen SPD-Chef Kurt Beck und anderen im Auerbachs Keller sitzt und Müller-Thurgau von der Unstrut serviert wird, schlägt Loest vor, diesen Wein "schnell wegzuschlucken und zu Grauburgunder von Proschwitz überzugehen". Beck revanchiert sich mit einer Kiste Spätburgunder aus der Pfalz. "Sein Abgang hört überhaupt nicht auf", notiert Loest beeindruckt. Man könnte meinen, er träume davon, ein reifer, vollmundiger Wein zu sein, der lange in Erinnerung bleibt.
Was erwartet Loest noch vom Leben? "Feierabend, Ruhestand, Sanftmut, […] vierter Anlauf beim ,Turm' von Tellkamp, Gelassenheit, Spaziergänge, Sudoku, […] kleine Urlaube in Thüringen und an mecklenburgischen Stränden, leider allerhand Fernsehen", notiert er auf der letzten Seite. Und: "Möglicherweise kaufe ich mir in zwei Jahren noch mal eine Hose."
Sein Begräbnis im sächsischen Mittweida, seinem Geburtsort, ist jedenfalls schon organisiert: "Keine Reden, keine Lügen, Champagner!"
Erich Loest: "Man ist ja keine Achtzig mehr. Tagebuch". Steidl Verlag, Göttingen 2011, 233 Seiten, 18 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen