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Erica ZingherGrauzoneSpätes Erzählen, unverzichtbares Analysieren

Foto: Stefanie Loos

Da ist diese Geschichte, an die ich in dieser Woche wieder denken muss: 1937 wird in Berlin der Jude Klaus Kozminski geboren. Noch ein Kind, flieht seine Familie vor den Nationalsozialisten nach Belgien. Als Kozminski drei Jahre alt ist, wird er in einem Kloster versteckt, in der Hoffnung, ihn zu retten.

2022 lernte ich Klaus Kozminski kennen. In der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt führte ich Interviews für ein Kunstprojekt, das die Erinnerungen jüdischer Zugewanderter aus der ehemaligen Sowjetunion einfangen wollte. Kozminski passte nicht ins Profil, kam aber trotzdem. Er bestand darauf, seine Geschichte zu erzählen. Er wollte gehört werden – und wir hörten zu.

Im Kloster hatten die Nonnen Koz­minski grausam behandelt. Er erzählte mir von Schlägen, Isolation, einer erlebten Kälte. „Ich war so alleine, die Traurigkeit ließ mich nicht los“, sagte er mit zitternden Händen. Die Nonnen hatten ihn spüren gelassen, dass er anders war. Viele seiner Spielkameraden, ebenfalls jüdische Kinder, wurden entdeckt und in Konzentrationslager deportiert. Einen dieser Transporte, dem er nur knapp entging, beobachtete er aus der Ferne. Inzwischen träume er von diesen Kindern, die er nie wieder sah, sagte Kozminski weinend.

Warum Klaus Kozminski, bei unserer Begegnung 85 Jahre alt, einen Ort suchte, seine Geschichte zu teilen, vielleicht zum letzten Mal vor seinem Tod, wie er anmerkte, wird verständlicher, blickt man auf die Geschichte der deutschen Erinnerungskultur.

Jahrzehnte war diese von Verdrängung, von Abwehr geprägt. Die Schoah spielte nach 1945 lange keine Rolle in Deutschland. Es waren vor allem jüdische Forscher, die noch während des Kriegs das massenhafte Morden dokumentierten, Archive gründeten. Mit der Befreiung von Auschwitz war zwar der Holocaust beendet, ein breites Forschungsinteresse entstand jedoch erst in den 1970er und 1980er Jahren. Jahrzehnte wurden die Erfahrungen von Schoah-Überlebenden ignoriert, repräsentierten sie doch den Kern der Vergangenheit, den die Deutschen verdrängten. Heute ist das anders. Zum 27. Januar, dem inter­na­tio­na­len Holo­caustgedenktag, herrscht jährlich ein Erinnerungsmarathon. Verstehen Sie mich nicht falsch, Gedenktage sind wichtig, aber sie müssen mit Inhalt gefüllt werden – auch fernab von Zeremonien. Es heißt oft, aus den Verbrechen von damals muss gelernt werden. Oder verkürzt: Nie wieder. Haben wir etwas gelernt?

Erica Zingher ist Journalistin und arbeitet als Referentin bei democ.

Hier ­erscheinen zwei Kolumnen im Wechsel. Nächste Woche: „Geraschel“ von Doris Akrap

1998 stellte der kürzlich verstorbene Yehuda Bauer, lange Direktor des internationalen Forschungsinstitutes in Jad Vaschem, in seiner Rede zum 27. Januar im Deutschen Bundestag die Frage, ob die Singularität der Schoah wirklich verstanden worden sei. Enttäuschend, dass diese Frage 27 Jahre später noch aktuell ist. Seit einigen Jahren stellen die Postkolonialen die Beispiellosigkeit der Schoah infrage und inszenieren das Verbrechen an 6 Millionen Juden als erinnerungspolitischen Gegenspieler zu den kolonialen Verbrechen der Deutschen. Extreme Rechte wollen gar kein Gedenken, schwadronieren von einem vermeintlichen „Schuldkult“.

Gedenktage müssen mit Inhalt gefüllt werden

Gerade erst forderte Elon Musk beim Wahlkampfauftakt der AfD einen Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit. Ein Narrativ, das ebenfalls aus der extremen Rechten bekannt ist. Ich dachte aber auch an die linken Studenten, die nur zwei Wochen nach dem 7. Oktober 2023 vor dem Auswärtigen Amt in Berlin riefen, Palästina müsse „von deutscher Schuld befreit“ werden. Es vermischt sich viel in diesen Tagen: Die Schoah war präzedenzlos, aber die Erinnerung daran wird aus verschiedenen politischen Lagern angegriffen, für eigene Zwecke instrumentalisiert.Erinnern und Empathie sind wichtig, aber sie ersetzen niemals notwendige Analyse. Von Letzterem wünsche ich mir für die Zukunft mehr.

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