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Archiv-Artikel

Erforschung der Erdatmosphäre

Karten aus Kasachstan (1): Funken und Blitze in der Oberleitung. Durch Almaty fährt die Tram wie eine Zeitmaschine

Wenn über Almaty dicke, trübe Schneewolken hängen, verliert die Stadt im Süden Kasachstans ihr sonst so fröhliches Gesicht. In Pelzen eingemummelte Menschen hasten über die Straßen, ohne dass ein Wort über ihre Lippen geht, konzentriert auf das Ziel, wo es womöglich warm ist und ruhig. Nur im Zentrum pulsiert auch an grauen Wintertagen das Leben: Musik, die von Tarkan über russischen Pop bis seltsamerweise neuerdings zur deutschen Nationalhymne reicht, schallt aus den Lautsprechern am Grünen Markt. Es gibt Schaschlik mit Weißbrot, und in kleinen, verschachtelten Gängen, die immer tiefer in die Markthalle führen, kann man Lederjacken erstehen oder angesagte Boots mit Orienteinschlag.

Möglichkeiten, ins Zentrum zu kommen, gibt es viele. Zum Beispiel mit dem Taxi. Warten muss man nie lang auf eins, denn jeder vierte Autofahrer ist Taxifahrer. Man hält den Arm raus, diskutiert kurz über den Preis und setzt sich auf den Beifahrersitz. Manche Taxifahrer sind sehr redselig, andere drehen lieber das Radio auf. Dann rauscht man über den Platz der Republik, vorbei am protzigen Unabhängigkeitsdenkmal, zu dem Hit des Winters: Er handelt von einem Mann, der gern Erfolg bei Frauen hätte, aber keinen hat. Doch dann kommt er an Geld, viel Geld, besorgt sich einen schwarzen Mercedes und wird zum Frauenhelden.

Im Bus nehmen die alten Menschen die Zumutungen solcher Popmusik gelassen hin, sie sitzen auf eisigen Plastikstühlen und kratzen sich kleine Löcher in die dick vereisten Fenster. An den Wänden werben Plakate für Mittel gegen Hämorrhoiden und Prostatabeschwerden. In den Tramwais gibt es keine Musik zu hören, nur eine metallische Stimme, die die Stationen ansagt. Man wundert sich zunächst über die vertrauten, seltsam alt klingenden Sätze: Da wird auf das „Abfahrtsignal“ hingewiesen und vor „Missbrauch der Notbremse“ gewarnt. „Marzahn“ steht als Endhaltestelle auf so mancher Wagenspitze.

In den 60er- und 70er-Jahren, als Kasachstan noch „Kasachische Sowjetrepublik“ hieß, fuhren die selben Tramwais über die Allee der Kosmonauten von Marzahn. Irgendwann wurden sie zu alt für den Berliner Vorzeigeplattenbaubezirk, und sie landeten in Almaty, damals noch Alma-Ata, wo sie inzwischen wie retroartige Zeitmaschinen wirken. Man kann sie sich sehr schön in einer dieser Sowjetanthologien vorstellen, wie sie auf Ramschtischen am Grünen Markt zu finden sind. Eine von 1970 beschreibt den Forschungsstand der Akademie der Wissenschaften von Almaty und zeigt in der Mitte ganzseitig das Bild eines riesigen Teleskops. Ein Mann im weißen, kurzärmeligen Hemd bedient das Gerät, während eine Frau mit Schürze durch es hindurch in den endlosen Sternenhimmel sieht. Die „Erforschung der optischen Eigenschaften der Erdatmosphäre“ und die „Physik interplanetarer gasstaubiger Nebelflecken“ haben sich sehr schnell entwickelt, stellt der Text dar.

Wenn die Tramwai auf ihrem Weg ins Zentrum die Akademie der Wissenschaften hinter sich lässt, verschwinden solche Bezüge. Manchmal, auf der Höhe der städtischen Sauna, blitzt es in der Hochleitung. Als nächstes sprühen Funken, die Fahrt gerät ins Stocken. So mancher Fahrgast, der es eilig hat, wünscht sich dann einen schwarzen Mercedes herbei. MATTHIAS ECHTERHAGEN