Erdoğans Afghanistanpläne: Der unterschätzte Frust
Die Türkei will ihre Truppen im Land verstärken. Ein riskantes Unterfangen: Die Bevölkerungsmehrheit ist strikt gegen die Pläne.
D er türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist bereit, sich in ein neues militärisches Abenteuer zu stürzen. Während alle anderen Nato-Staaten ihre Truppen aus Afghanistan abziehen, will er das türkische Kontingent sogar noch verstärken und zukünftig die Kontrolle über den Flughafen von Kabul übernehmen. Erdoğan will damit einen Wunsch von US-Präsident Joe Biden erfüllen, um die Beziehungen zu den USA zu verbessern, gleichzeitig aber, wie schon in Syrien und Libyen, einen Fuß in der Tür behalten, um zukünftig in Afghanistan mitreden zu können.
So weit der Plan, doch die Sache könnte sich für Erdoğan schnell zu einem Albtraum entwickeln. Obwohl der Präsident gegenüber den Taliban den muslimischen Bruder herauskehrt, verlangen diese kategorisch auch den Abzug der türkischen Truppen. Und in der Türkei ist nicht nur die Opposition, sondern die ganz überwiegende Mehrheit der Bevölkerung dagegen, dass Erdoğan sich nun auch noch in Afghanistan exponieren will. Angesichts der Misere im eigenen Land fürchten viele nicht nur die Kosten dieses Abenteuers, sondern dass, ähnlich wie im Falle Syriens, weitere Hunderttausend Afghanen in die Türkei flüchten könnten.
Selbst wenn Erdoğan die Widerstände der Taliban überwinden kann – er unterschätzt die Wut und den Frust, die sich gegen seine Politik insgesamt und seine Flüchtlingspolitik insbesondere angestaut haben. Erst in der Nacht zu Donnerstag kam es in Ankara zu massiven Ausschreitungen gegen syrische und afghanische Flüchtlinge. In der aktuellen Wirtschaftskrise kämpfen auch viele Türken um das tägliche Überleben. Dazu kommt, dass vor allem die säkularen Türken die Migration oft streng islamischer Syrer und jetzt auch noch Afghanen als bewusste Bevölkerungspolitik Erdoğans sehen.
Der Widerstand dagegen führt auch zu Spannungen in Erdoğans Koalition mit der rechtsradikalen MHP. Sein Kabul-Abenteuer könnte zum berühmten letzten Tropfen werden, der das Fass zum Überlaufen bringt und den Präsidenten endgültig in schwere politische Turbulenzen stürzt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen