Erdbebenkatastrophe in der Türkei: Im Zustand der Ausnahme
In den Erdbebenregionen im Süden der Türkei erschweren regierungstreue Helfer die Bergungsarbeiten. Kritik an Ankaras Krisenmanagement wird lauter.
Die Bergungsarbeiten nach den Erdbeben vor zwei Wochen wurden – wie in vielen anderen Orten auch – zuerst von Bewohnern koordiniert. In Pazarcık hatte die prokurdische Partei HDP dabei eine Führungsrolle. Das ist seit ein paar Tagen vorbei. Sogar eigens organisierte Hilfsgüter sollen vom Verwalter aus Ankara beschlagnahmt worden sein.
Bisher spielten parteipolitische oder ethnische Faktoren bei den Rettungsarbeiten kaum eine Rolle. So zerstritten manche Bevölkerungsgruppen in der Türkei auch sind: Im Krisenfall halten die Menschen zusammen. Doch längst wird auch die Erdbebenhilfe politisiert.
„Man blockiert uns!“, beschwerte sich die HDP-Abgeordnete Fatma Kurtulan kürzlich in einem Medieninterview. Dabei habe ihre Partei in Pazarcık als erste geholfen und heiße Suppe verteilt. Diese und andere Solidaritätsaktionen gingen durch die sozialen Medien. Das habe dann die Regierung auf den Plan gerufen, sagt Baransel Ağca. Er ist Journalist und lebt aktuell in Deutschland, weil er in der Türkei wegen Terrorvorwürfen vor Gericht steht. „Die Regierung dachte wohl, dass sie dagegen schwach aussieht.“ Auch in den Provinzen Osmaniye und Hatay sei Ankara mit eigenen Verwaltern gegen Helfende aus kommunistischen Gruppierungen vorgegangen.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die Menschen in Deutschland zu „ausdauernder Solidarität“ aufgerufen. Bei einer Gedenkveranstaltung für die mehr als 40.000 Opfer sagte er laut Redemanuskript am Montagabend vor dem Brandenburger Tor in Berlin, Mitmenschlichkeit bleibe gefragt.
Die Türkische Gemeinde in Deutschland und der Verband Deutsch-Syrischer Hilfsvereine hatten zu der Gedenkveranstaltung aufgerufen. Steinmeier appellierte zudem an das syrische Regime, Helfer ihre Arbeit tun zu lassen. (epd)
Ausnahmezustand verhängt
Möglich macht das der Ausnahmezustand für Katastrophengebiete, den der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan bereits an Tag drei nach dem Beben ankündigte und den das Parlament kurz darauf offiziell beschloss. Er soll drei Monate gelten und erleichtert es der Regierung zum Beispiel, mehr Soldaten zu schicken und die Hilfe aus einer Hand zu koordinieren.
„Ziel ist es, die Folgen der Katastrophe in dieser Region zu bekämpfen“, erklärt der Verfassungsrechtler Professor Osman Can. Laut dem Gesetz dürften dazu notfalls auch Mittel von Privatpersonen beschlagnahmt und verwendet werden. Can, der früher im Vorstand von Erdoğans islamisch-konservativer AKP war, ist seit Jahren als Regierungskritiker bekannt. Den Ausnahmezustand verteidigt er aber: „Wenn das Leben Tausender Menschen von Minuten abhängt, müssen effektive und schnelle Mechanismen aktiviert werden.“
Allerdings sagt auch Can: Durch den Ausnahmezustand konnten fragwürdige Maßnahmen wie die kurzzeitige Blockierung des Kurznachrichtendienstes Twitter oder das Vorgehen gegen kritische Journalisten legitimiert werden. Außerdem wurde der Unterricht an Universitäten landesweit für zunächst drei Wochen eingestellt. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Präsident Erdoğan gerade die Wut von Studierenden fürchtet, denn bisher hatte jeder politische Umsturz in der Türkei seine Wurzeln in den Hochschulen.
Angesichts des Ausnahmezustands ist zuletzt auch die Pause des Parlaments verlängert worden. Erst Ende des Monats sollen die Politiker wieder in Ankara zusammenkommen. In der Opposition werden aber schon lange Rufe nach Aufklärung und Verantwortung der Regierung für schlechtes Krisenmanagement laut.
Viele Menschen im Land fürchten, dass die Regierung bemüht ist, ihr eigenes Versagen vertuschen zu wollen. Die Vorwürfe gegen die Regierung in Ankara wiegen schwer: Entgegen den jahrzehntelangen Warnungen von Geolog:innen und Seismolog:innen soll erdbebensicheres Bauen unter der Erdoğan-Regierung nicht so ernst genommen worden sein wie gesetzlich vorgeschrieben. Das Baumaterial soll oft billig, platzsparend und am Ende für Zehntausende tödlich gewesen sein.
Hinzu kommt: Vor einem Jahr entzog Präsident Erdoğan ausgerechnet der Provinz Hatay den gesetzlichen Status als Risikogebiet. Gerade diese Gegend haben die Beben vor zwei Wochen aber besonders getroffen. Die Hauptstadt Hatays, Antakya, existiert quasi nicht mehr.
Nur dort und in der Provinz Kahramanmaraş sind aktuell noch Rettungstrupps auf der Suche nach Verschütteten unterwegs. In den anderen Gegenden wurden die Bergungsarbeiten eingestellt. Dafür sind aktuell mittlerweile viele Anwälte aus dem ganzen Land vor Ort und suchen nach Beweisen für illegale Bauarbeiten. Auch ihre Arbeit darf theoretisch von der Regierung unter Berufung auf den Ausnahmezustand erschwert werden.
„Missbrauch ist möglich, weil es in diesem Ausnahmesystem keine Kontrollmechanismen für Entscheidungen gibt“, erklärt Verfassungsrechtler Can. Das Hauptproblem sieht er in der Korruption des Regierungssystems und in der Personalisierung der Macht zugunsten des Staatspräsidenten.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass in vielen Teilen des Erdbebengebiets die meisten Menschen Erdoğan bei den letzten Präsidentschaftswahlen ihre Stimme gegeben haben. Auch in Pazarcık war das so: Die HDP, die sich jetzt vor Ort für die Interessen von Anwohner:innen und deren Autonomie starkmacht, kam bei den Wahlen nur auf Platz drei.
Würde jetzt gewählt, sähe das sicher anders aus. Viele Menschen sind wütend auf Ankara. Ein Grund dafür ist, dass Erdoğan, der sich selbst vor ein paar Jahren per Verfassungsänderung zum Oberbefehlshaber der Armee machte, erst sehr spät ausreichend Soldaten ins Krisengebiet geschickt hat.
Jetzt ist das Militär mit mehreren Einheiten in allen Provinzen vertreten. Dort müssen sie zwar, wie in Pazarcık, einerseits die Arbeit der Verwalter überwachen. Externe Sicherheitsanalysten schätzen aber hinter vorgehaltener Hand, dass das Militär selbst mit dem Krisenmanagement der Regierung nicht zufrieden sein dürfte. Für Erdoğan könnte die Präsenz der vielen Soldaten damit zum Risiko werden. Der Ausnahmezustand verleiht ihm einerseits mehr Befugnisse, als er ohnehin schon hatte. Andererseits schürt er aber auch den Frust im Land.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken