: Er taugt nicht für die Ruhe des Herzens
GESTEIGERTE EMPFINDUNG Dem Florentiner Maler Sandro Botticelli widmet sich eine gelungene Schau im Frankfurter Städel Museum
VON ULF ERDMANN ZIEGLER
Etwas unheimlich ist es, dass ein Mann, dessen Geburtsjahr niemand verlässlich datieren kann, nach fünfhundert Jahren so leibhaftig in Erscheinung tritt. Die Werkschau des Alexander Fäßlein – der Vorname verkürzt auf den Kindernamen Sandro und Botticelli ein Spitzname, eigentlich seinem beleibten Bruder zugedacht – im Frankfurter Städel ist so gelegt, dass sie im Jubiläum des Todesjahres endet.
Als Botticelli mit (etwa) 65 Jahren starb, hatte er ein anstrengendes Leben hinter sich. Als er Mitte dreißig war, wurde in seiner Stadt erfolglos geputscht; bis er fünfzig war, lebte er in einer feudalherrschaftlich entstellten Republik, deren neureiche Machthaber ihn vereinnahmten und fütterten; dann kam eine theokratische Diktatur, deren Anführer nach vier Jahren auf dem Marktplatz verbrannt wurden; und am Ende folgten zwölf ruhigere Jahre in einem demolierten, aber immer noch von vermögenden Bürgern bewohnten Stadtstaat, der frische Talente verherrlichte – wie Michelangelo. Die Zeitgeschichte war so sattsam präsent in Florenz um 1500, dass Botticelli gleich dablieb, nie weiter reiste als bis nach Rom, Beobachter eines vorreformatorischen Welttheaters, das er in hellen, bisweilen grellen Bildern allegorisch spiegelte, kommentierte, karikierte.
Was einen Betrachter heute erreicht, sind wohl kaum die verschachtelten Emblematiken der Frömmigkeit und auch nicht das, was die Medici von ihm erwarteten, nämlich den Import mythologischer Ikonen in den florentinischen Philosophengarten – er war Meister dieser Diskurse –, sondern ein betörendes, auch belustigendes Spiel mit Porträts zum Anfassen, situiert in bühnenhaften Interieurs, und Massenszenen auf städtischen Plätzen, so glaubhaft wie Märklin-Eisenbahn und Faller-Häuser. Kein Hauch von „Atelier“ spürbar. Was den „Meister“ ausmacht, ist allemal sein Können, obwohl kleine Entstellungen dann auch nicht schaden. Entscheidend aber sind seine Bildideen, jenes alarmierende Miteinander und Gegenüber von zu viel oder zu wenig: Venus barock im Negligé; neusachlich das Antlitz Marias.
Das Referenzbild der Frankfurter Ausstellung ist ein „weibliches Idealbildnis“, das porzellanhafte Fastprofil einer exotisch geschmückten, sehr jungen Ehefrau namens Simonetta Vespucci. Das Bild gehört dem Städel. Sie symbolisiert den ganzen grotesken Zirkus der Medici: die Wiederentdeckung der Minne als Massenspektakel; Prunk als Mittel politischer Legitimation; der Traum der Patenfamilie von sich selbst jenseits von Stand und Geschichte. Gerade jene Kreise, die ihre Frauen den Prinzipien von Territorialgewinn und Kapitalmaximierung unterwarfen, sie Ehemännern zuführten wie Zuchtpferde, zelebrierten einen Liebeskult, dessen Antikensehnsucht Botticelli aufs Originellste bebildert hat. Eine ganze Werbeagentur würde nicht draufkommen.
Zwar hat die Ausstellung einen weltlichen und einen religiösen Teil – beides in bordeauxrote Rundgänge getaucht, atemberaubend beleuchtet, pädagogisch-kritisch betextet –, aber vielleicht sollte man den weltlichen Teil als religiösen entziffern, Antike als Statusreligion, und den religiösen als weltlichen. Es ist schon verwirrend, wie Botticelli aus seinem Lieblingsmotiv, der Madonna mit dem Kinde, eine Ware macht. In der Diagonale schwebend, als wohlsituierter Passagier eines unsichtbaren Luxusvehikels oder als splitternackter Ödipus in Denkerpose mit Heiligenschein richtet sich das Jesuskindlein ein in illustrer Gesellschaft, angebetet in Tempelruinen aus Pappmaschee. Die bizarrste Gestalt der Anbetungsszenen ist der sogenannte Johannesknabe, ein Höhlenkind von schmalem Wuchs mit schweren Lidern, ein Leonardo-Zitat, Alter acht bis sechzehn, ein brillantes psychosexuelles Amalgam.
Die kreisrunden Maria-Modeschauen wurden zu einer Spezialität Botticellis, wobei – wie der Kurator der älteren Malerei am Städel, Andreas Schumacher, betont – die biblischen Szenen ohnehin das modernere Segment darstellen, nämlich auftragfreie Malerei, Prêt-à-porter. Erstaunlich, was auch heute noch in privaten Sammlungen hängt.
Im begleitenden, aus Sicht der Forschung aktuellen Katalog widerspricht Ulrich Rehm auch der frühesten Quelle über das Leben der Maler, Vasari, indem er betont, dass nichts darauf hinweise, was der Biograf suggeriert habe: Botticelli war kein Anhänger des durchgeknallten Mönchs Savonarola, der Florenz regierte, wie die „Revolutionsgarden“ Bagdad regierten.
Jedenfalls mündete Botticelli nicht in den Kanon. Dreihundert Jahre war er nahezu vergessen. Ihm fehlt das Analytische Leonardos, das Auf-du-und-du Cranachs, die humane Sendung Michelangelos. Er war entweder zu sophistisch oder zu leichtherzig, zu linientreu oder zu fantastisch – ein ingeniöser Provinzler, gefangen in den Gassen San Lorenzos, die Schreie der an den Füßen Aufgehängten wie ein Echo, das nicht verhallt.
Eines steht fest: Ohne eine gewisse postmoderne Lust am Verstiegenen ist dieses Werk von den Klischees des Pittoresken nicht zu befreien. Sandro Botticelli taugt für die gesteigerte Empfindung, für die Ruhe des Herzens taugt er nicht. Die Frankfurter Ausstellungsmacher wissen das gut. Jenseits der berühmten großen Formate, die man niemals leihen kann, haben sie das Beste draus gemacht: ein haptisches Rätsel, ein intellektuelles Labyrinth.
■ „Botticelli: Bildnis, Mythos, Andacht“. Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt am Main, bis zum 28. Februar 2010. Katalog 39,90 €, deutsch oder englisch