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Er kennt jeden Winkel

Detlef Knobelsdorf war der Wirt der Kneipe „Zum Stillen Winkel“. 28 Jahre lang. Er erlebte DDR, Wende, Niedergang. Wie sieht er heute sein Schöneweide?

„Sechs Meter war die Theke. Mit Marmorverkleidung. Marmor aus Kreta“

DETLEF KNOBELSDORF

VON ANNABELLE SEUBERT

Iris Budach nennt ihn „Legende“. Die Gaststättenbesitzerin sitzt in ihrem Schöneweider Café Wunderbar direkt vor einem kleinen Holzzaun. Dahinter hat sie einen Altar für Elvis Presley eingerichtet: Auf eingerahmten Postern lächelt er von der Wand herab. Blaue Vasen mit gelben und roten Gerbera stehen darunter, immer im gleichen Abstand zueinander. „Wann kommt er denn endlich?“ Iris Budach springt auf und läuft unruhig umher. Vorbei an einer Elvis-Puppe aus Gips. Auf ihre Tische legt sie Speisekarten, die mit dem Kopf des „King“ bedruckt sind. „Um elf wollte er doch da sein.“ Es ist drei nach elf, als sich die Tür mit einem Ruck öffnet.

„Arschkalt!“ Ein Herr mit Schnurrbart und Halbglatze kommt herein und zieht sich die Lederjacke enger um den Körper. Detlef Knobelsdorf ist 67, Rentner – und der ehemalige Nachbar von Iris Budach. „Von 74 bis 2002 bin ich da drin gewesen.“ Er zeigt nach links, auf eine Wand. Hinter ihr befand sich seine Eckkneipe „Zum Stillen Winkel“. „28 Jahre lang.“ Er lässt sich auf einen Stuhl fallen, packt eine zerfledderte Mappe und eine polnische Zigarettenpackung der Marke Route 66 aus. „Eigentlich fange ich ja erst mittags an zu rauchen. Und dann zügig.“ Knobelsdorf greift nach dem Feuerzeug. „Aber heute habe ich schon so viel frische Luft geschnappt.“ Iris Budach bringt ihm Kaffee und setzt sich neben ihn. Er öffnet die Mappe, entnimmt ihr alte Fotos und vergilbte Artikel. Als Erstes hält er eine Schwarzweißaufnahme in die Luft: „Schau mal, Iris, der bunte Rock von deiner Mutti! Den kenne ich noch gut.“ Tanzende Mädchen mit Blümchenkleidern und eingedrehten Locken sind auf dem Bild zu sehen, Männer mit langen Haaren und Schlaghosen, Sektflaschen, Schnapsflaschen, leere Gläser und ein paar Tannenzweige. „Das war Heiligabend im Stillen Winkel“, erinnert sich Iris Budach, „bei Detlef war Weihnachten immer wie Silvester“. Detlef Knobelsdorf reicht andere Fotos weiter, auf denen er Freunde umarmt, als Frau verkleidet ist oder mit einem Bein auf der Theke steht. „Sechs Meter war die Theke. Mit Marmorverkleidung. Marmor aus Kreta.“ Er tippt mit dem Finger auf ein Foto, das die Einrichtung der Schenke zeigt: antike Lampenschirme, Elchgeweihe, Bierkrüge und Zeichnungen vom Schöneweide der Vorkriegszeit. „Ich war die erste Kneipe mit Tapete an den Wänden.“

„Im Stillen Winkel war’s einfach saugemütlich und knuffig.“ Iris erzählt von den vielen Stammgästen von „Detlef“. „Für ’ne Molle und ’n Korn.“ 49 Ost-Pfennig hat das Bier gekostet. Ohne Bedienung sogar 35. „Die Leute sind im Karree gegangen, um einen Platz zu bekommen“, sagt Knobelsdorf. Trotzdem hätten manchmal die 32 Sitzplätze nicht gereicht, um Arbeiter, Parteisekretäre, Professoren, Künstler, Musiker und Schauspieler unterzukriegen. „Dann hab ich meine beiden Kinostühle dazugestellt.“ Detlef Knobelsdorf wendet sich Iris Budach zu. „Jetzt sind es deine Notsitze.“ Er lacht. Kurz. Seine Stühle und er sind jetzt im Café Wunderbar zuhause. Dennoch tun ihm die heruntergelassenen Rollläden in den Fenstern seines Stillen Winkels „schon weh“.

„Es war immer voll. Bis der Euro kam“, sagt der Wirt. Ob ihm die Wende nicht zugesetzt hat? „Ich gebe viel Schuld dem Euro“, wiederholt er schnell. Überhaupt, mit der ländlichen Idylle Schöneweides, „den Zickleinwiesen und dem Feuchtgebiet“, sei es schon in den Zwanzigerjahren vorbei gewesen.

Detlef Knobelsdorf steht vor dem früheren Transformatorenwerk Oberspree (TRO), einem Gelände mit backsteinfarbenen Fabrikgebäuden. Mit dem Kopf nickt er in Richtung dreier Schornsteine. „Die drei Türme waren früher für das TRO, das KWO und das WF.“ KWO stand für Kabelwerk Oberspree, WF für Werk für Fernsehelektronik. In den drei Betrieben arbeiteten zu DDR-Zeiten 25.000 Menschen. Emil Rathenau hatte bereits Ende des 19. Jahrhunderts das Ufergelände an der Oberspree für seine Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft (AEG) auserkoren und den Grundstein dafür gelegt, dass sich Schöneweide zu einem Industriestandort entwickelte. Von dem Industriestandort spricht Knobelsdorf gerne. Am liebsten davon, wie er das Stadtviertel in der DDR aufblühen ließ. „Da gab’s Kneipen, die machten schon um 6 Uhr morgens auf. Und wenn sie fünf Minuten später aufmachten, klopften die ersten Nachtschichtarbeiter wütend ans Fenster.“

Vor dem TRO-Werk läuft Detlef Knobelsdorf gemächlich die Straße auf und ab. Er blickt auf verrostete Gleise, die in Teer und Pflastersteine eingelassen sind. Die seien noch vom „Bullen“, erzählt er. Einer langsamen Industriebahn, die vom TRO-Werk zum KWO-Werk fuhr und nur Transformatoren, Rohstoffe und Kabelrollen transportierte. „Da sind wir nach dem Feiern oft aufgesprungen. Heimlich.“

Ein Teil der Schienen ist geblieben. Tausende Arbeiter sind es nicht. In der DDR wurden die Industriebauten vernachlässigt und nicht an die moderne Produktion angeglichen. Nach der Wende waren die Anlagen überholt und marode. Sie waren nicht konkurrenzfähig mit Großunternehmen aus dem Westen. Die Beschäftigtenzahl brach auf 3.000 ein, die Abwanderungsquote stieg schnell. „Traurig ist das schon, wenn man sieht, was es hier für ein Potenzial an Arbeitern gab. Dass hier in ganz Schöneweide 25.000 Leute gearbeitet haben – ohne die vielen kleinen Geschäfte mitzuzählen. Das muss man sich mal vorstellen.“ Detlef Knobelsdorf hält für einen Moment inne und sieht sich noch einmal das TRO-Werk an. „Aber hier passiert ja jetzt wieder viel, auf dem Gelände. Da sind erst wieder ein paar Galerien eingezogen.“ Ein Atelierhaus, die Karl-Hofer-Gesellschaft mit eigener Atelieretage, ein Kultur- und Technologiezentrum. Dahinter ist eine Uferpromenade mit einem Zentrum für zeitgenössische Kunst geplant.

„Regina, du sollst doch nicht draußen in der Kälte stehen und quatschen. Du sollst nachhause gehen und Laub harken!“ Detlef Knobelsdorf schüttelt die Hand einer Ladeninhaberin in der Wilhelminenhofstraße. Die Leute, die er begrüße, seien Gäste von früher, sagt er. Eigentlich begrüßt er aber jeden, der ihm begegnet, mit Namen. „Man kennt sich. Das ist das Schöne hier.“ Weniger schön findet er, was mit den vielen Geschäften der Wilhelminenhofstraße passiert ist. „Das war mal eine richtige Einkaufsstraße. Dort drüben, wo die Sparkasse ist, war in der DDR das Kaufhaus Einheit. Da gab es alles.“ Detlef Knobelsdorf weiß auch noch, wo „Fisch-Dieter“ und „Schuh-Löffler“ ihre Ware verkauften. „Schuh-Löffler ist der Einzige, der die Wende überlebt hat.“ Detlef Knobelsdorf schreitet an Imbissbuden und Spätkäufen vorüber. „Und da ist ein Puff.“ Er schielt auf die gegenüberliegende Straßenseite. „Das ist die Neuzeit.“

Er bleibt stehen und reckt den Hals. „Diese zweistöckigen Häuser stammen aus den Anfängen, in denen Schöneweide gegründet wurde. Die sind alle etwas über hundert Jahre alt.“ Die Gründerzeitfassaden in der Wilhelminenhofstraße zieren Ornamente und kleine Türme. Ihre Farbe blättert nicht mehr ab, seit der Berliner Senat 1994 Schöneweide zum Sanierungsgebiet erklärt hat. „Nur zwei Häuser müssen noch renoviert werden.“

Auf dem Areal des alten KWO-Werks dreht sich Knobelsdorf nach vier jungen Mädchen um. „Bisschen kurz, die Höschen.“ Seit 1. Oktober nutzt die Hochschule für Technik und Wirtschaft die Hallen, für 6.000 Studenten und 200 Professoren. „Wird auch Zeit, dass in die Hallen was reinkommt.“ Auf dem neuen, 120 Millionen Euro teuren Campus hastet der Rentner regelrecht, als wolle er sich dem Tempo der Studenten anpassen. Sobald er um die Ecke gebogen ist, steckt er sich eine Zigarette, eine Route 66, an und atmet tief aus. „Ich brauche jetzt einen Kaffee, zum Aufwärmen.“

Auch mit Kaffee findet es Detlef Knobelsdorf „zu windig“, um über den Kaisersteg zu gehen. Die Brücke wurde 1945 von der SS gesprengt und 2007 wiederhergestellt. „Die hieß ja früher ‚Schwindsuchtbrücke‘. Die hat sich damals ein bisschen bewegt, weil es über der Spree immer so kalt war.“ Sie wurde erneuert, um Nieder- und Oberschöneweide stärker miteinander zu verknüpfen. Ziel der Stadtplaner und Quartiersmanager ist es nicht nur, Schöneweide attraktiver zu machen. Sondern auch, die beiden Ortsteile zusammenzuführen. Bislang vereinen sie sich jedoch lediglich namentlich unter dem Bindestrichbezirk „Treptow-Köpenick“.

Nach Niederschöneweide möchte Knobelsdorf erst recht nicht. Das sei nun wirklich zu weit. „Ich bin Oberschöneweider“, sagt er und nickt. Er will lieber zurück zu Iris und Elvis. Nur nicht über die Rathenaustraße. „Die ist so zugig.“