Entwicklungshilfe für Deutschland: Revival der Mikrokredite

In der Wirtschaftskrise boomen die Kleinkredite für Selbständige auch wieder in Deutschland. Banken winken bei den Summen oft ab – doch sie sind eine Alternative zur Arbeitslosigkeit.

Muhammad Yunus hat für seine Mikrokredite in Bangladesch den Friedensnobelpreis erhalten. Bild: dpa

"Ohne den Kredit", sagt Marion Bress, "wäre ich längst pleite." Doch die 40-jährige Friseurmeisterin sitzt im improvisierten Pausenraum ihres eigenen Salons in der Dortmunder Nordstadt. "Marions Abschnitt" heißt der Salon. Neben ihr rotieren Handtücher in der Waschmaschine, dröhnt der Trockner. "Ohne den Kredit", sagt Bress und zieht scharf an ihrer Zigarette, "wäre ich arbeitslos, genau wie meine Angestellte und meine Auszubildende." Lakonisch erzählt sie von "meinem Exmann", mit dem sie vor sieben Jahren begann, den Salon aufzubauen. Von dem Schock, als plötzlich dieser Brief vom Finanzamt kam, der mit Insolvenzanmeldung drohte. Ihr "Exmann", der sich um die Buchhaltung kümmern sollte, war da längst verschwunden. Zurück blieben 50.000 Euro Schulden. Und die wollte Bress Bank binnen zwei Wochen zurück.

DIE IDEE: Erfunden wurden die Mikrokredite um 1860 von Sozialreformer Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Seine genossenschaftlichen Darlehenskassenvereine basierten auf dem Solidarprinzip, sollten ihre Mitglieder gegenseitig kreditfähig machen und so vor Wucher schützen.

DIE ENTWICKLUNGSHILFE: Wiederbelebt wurde die Idee Raiffeisens 1976 von Wirtschaftswissenschaftler Muhammad Yunus in Bangladesch: Erschüttert von den völlig überhöhten Zinsen von bis zu 10 Prozent wöchentlich, die Korbflechterinnen zur Vorfinanzierung des Rohstoffs Bambus zahlen mussten, vergab Yunus über seine Kreditorganisation Grameen Kleindarlehen für die Selbsthilfe. Die Bank ist heute zu über 90 Prozent im Besitz der Kreditnehmer. Yunus erhielt 2006 den Friedensnobelpreis.

DAS COMEBACK: Nach Europa kehrte das Genossenschaftsprinzip für Kleinstkredite Anfang der 1990er-Jahre zurück: In Frankreich und den Niederlanden haben bereits mehr als 10.000 Existenzgründer Mikrokredite erhalten.

Gerettet hat die Friseurmeisterin die mit Unterstützung der Stadt Dortmund gegründete Genossenschaft Nordhand. Deren Vorstände Frank Lunke und Detlef Thomy wollen Kleinunternehmen wie das von Bress unterstützen, beraten, vernetzen. Im sozialen Brennpunkt Nordstadt, wo die Arbeitslosenquote seit Jahren bei 25 Prozent liegt, versuchen viele, mit einer eigenen Firma der Arbeitslosigkeit zu entgehen. Mit dem städtischen Wirtschaftsförderer Hubert Nagusch haben Lunke und Thomy der Friseurmeisterin eine Schuldnerberatung organisiert, bei der Umschuldung geholfen, kleinere Kreditraten ausgehandelt. Und ihr einen Mikrokredit vermittelt: 10.000 Euro. "Marions Abschnitt" überlebte.

Hinter Bress Mikrokredit steht die Bochumer GLS-Bank. Dort arbeitet Projektentwickler Falk Zientz schon seit 2000 an einer ganz eigenen Erfolgsgeschichte: Er überträgt die aus der Entwicklungshilfe bekannte Idee der Mikrokredite auf die Bundesrepublik. Der aus Bangladesch stammende Wirtschaftswissenschaftler Muhammad Yunus erhielt für die Kleinkredite seiner Grameen Bank 2006 den Friedensnobelpreis (siehe Kasten). "Wer arbeitslos ist, wegen bereits vorhandener Schulden einen negativen Schufa-Eintrag hat, kein regelmäßiges Einkommen oder sonstige Sicherheiten nachweisen kann, bekommt in der Regel keinen Unternehmenskredit", sagt Zientz. Überhaupt rechneten sich kleinere Firmenkredite für viele Institute oft nicht: Allein die Prüfung des Unternehmenskonzepts durch eine Bank könne schnell mehrere tausend Euro kosten. Kreditausfälle hinzugerechnet, würden für Mikrodarlehen wie das von Marion Bress Zinssätze von bis zu 50 Prozent fällig. "Das wäre Wucher. Also lehnen die Banken ab und erklären das Unternehmenskonzept ganz schnell für nicht tragfähig", sagt der Banker Zientz.

Um die Kreditkosten zu reduzieren, hat Zientz deshalb Mikrofinanzierer wie die Nordhand zwischengeschaltet. Nicht die GLS, sondern die Dortmunder Genossenschaft hat das Unternehmenskonzept und die Kreditwürdigkeit von Marion Bress bewertet. "Wir arbeiten viel kostengünstiger als Banken", sagt Nordhand-Vorstand Lunke: "Wir kannten Frau Bress und ihr Unternehmen ja schon aus der Beratung." Doch auch Ökonom Lunke muss die Kreditvergabe sorgfältig prüfen. Schließlich haftet seine Nordhand für die vergebenen Kredite mit: Liegt die jährliche Ausfallquote aller von ihr vermittelten Kredite unter 10 Prozent, bekommt die Genossenschaft eine Gutschrift von der GLS. Bei Ausfällen über 10 Prozent aber werden Strafzahlungen fällig.

Gern unterstützt die Mikrofinanzorganisation deshalb Mitglieder wie Sebastian Horbach. Nur einen Kilometer von Marion Bress Friseursalon entfernt sitzt der Kneipier auf dem Dortmunder Nordmarkt im Biergarten seines Cafés "Killefitt". "Im Sommer brummt der Laden", sagt Horbach. "Im Winter aber kann ich allein mit dem ,Killefitt' nicht überleben." Der Gastronom, der im Berliner Hotel Adlon gelernt, in Amsterdam gearbeitet und in Dortmund die Wirtschaftsschule für Hotellerie und Gastronomie abgeschlossen hat, brauchte ein zweites Standbein. Im Gerichtsviertel hat Horbach deshalb das Bistro "Kaiserbrunnen" aufgemacht. Doch seine Hausbank, die Sparkasse Dortmund, wollte Horbachs Expansion nicht unterstützen: "Mein Berater hat mir erst abgeraten und dann trotzig abgelehnt", sagt der 31-Jährige. Wie Bress ist Horbach deshalb Genosse der Nordhand geworden, hat einen Genossenschaftsanteil von 50 Euro gezeichnet, zahlt 5 Euro Monatsbeitrag. Das Ergebnis: Ein von der Nordhand vermittelter GLS-Mikrokredit über 10.000 Euro sicherte seine Existenz. "In der Nordstadt haben die Gäste Fünfer in der Tasche, im Gerichtsviertel sehe ich oft die grünen Hunderter", lacht Horbach.

Dabei ist die Nordhand kein Einzelfall: Die GLS arbeitet mit neun weiteren Mikrokreditorganisationen zusammen. Eine davon ist die Firma AN-Consult der Unternehmensberaterin Anke Nägele mit Sitz in Haan bei Wuppertal. "Neben der Finanzierung brauchen Existenzgründer vor allem Beratung und Betreuung", sagt Nägele. Schließlich hätten viele der potenziellen Selbstständigen noch nie einen Businessplan geschrieben, sich keine Gedanken zum Marketing gemacht, von Buchhaltung ganz zu schweigen. "Es gibt aber Fälle, wo auch wir eine Finanzierung ablehnen müssen", warnt die Gründungsberaterin. "Wenn jemand unbedingt die fünfte Pommesbude oder das zehnte Sonnenstudio aufmachen will, helfen wir natürlich nicht", sagt Nägele.

Eine ihrer Kundinnen ist die Aachener Heilpraktikerin Tamara Kirschbaum. "Frau Nägele hat mit sehr geholfen", sagt die 32-Jährige. "Nicht nur bei der Buchhaltung." Auch im Streit mit dem Jobcenter habe die Beraterin sie unterstützt: Die Arbeitsverwaltung wollte ihre Selbstständigkeit nicht unterstützen. Sie sei Mutter von drei Kindern, hieß es, und könne deshalb gar nicht arbeiten. Mit einem von Nägele vermittelten Mikrokredit über 3.500 Euro aber eröffnete Kirschbaum ihre Heilpraktikerpraxis im August 2008 dann doch. "Mittlerweile arbeite ich bereits fast kostendeckend", freut sich Kirschbaum. "Meine Bank hat mir trotzdem ganz klar gesagt, dass ich als Hartz-IV-Empfängerin von denen keinen Cent bekomme."

Von Banken und Sparkassen, die trotz guter Geschäftsidee keinen Kredit gewähren, erzählen auch die Kunden des baden-württembergischen Mikrofinanzierers Monex. Dessen Vorstand Ralf Stolarski hat die Gründung eines Sportstudios in Öhringen bei Heilbronn genauso finanziert wie den Bahnhofskiosk in Mannheim oder ein Kosmetikstudio in Ulm. "Ohne den Mikrokredit wäre ich wirtschaftlich tot", sagt Uwe Melzer aus Rottweil bei Stuttgart, der bei der Errichtung von Ökohäusern Architekten und Bauherren zusammenbringt. Ursprünglich sei er selbst Unternehmensberater gewesen, sagt der 58-Jährige. "Doch als meine Firma scheiterte, war ich als Geschäftsführer persönlich haftbar, mein Vermögen weg." Wegen der Insolvenz habe er noch mindestens drei Jahre einen negativen Schufa-Eintrag. "Nicht einmal ein Auto könnte ich ohne Mikrokredit mieten", sagt Melzer. "Mehr als froh" sei er deshalb über die zweite Chance, die Monex ihm bietet. "In meinem Alter bekomme ich doch in der Wirtschaft keinen Job mehr."

GLS-Projektentwickler Zientz setzt deshalb weiter auf Expansion. Die Bundesministerien für Wirtschaft und für Arbeit, die staatliche Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) und private Investoren haben den Mikrofinanzfonds Deutschland der Bochumer Bank mit aktuell 3,1 Millionen Euro gefüllt. Bisher hat Zientz 300 Kredite mit einem Gesamtvolumen von 2,1 Millionen Euro zu einem Zinssatz von bis zu 10 Prozent ausgegeben. Auch die Ausfallquoten von derzeit 6 Prozent auf die Tilgung seien vertretbar. Deshalb denkt Zientz bereits an eine Neuauflage des Fonds: Bei einem mittleren Kreditzins von 6,5 Prozent seien für private Investoren künftig Renditen von 3 bis 4 Prozent realistisch. Potenzielle Kreditnehmer könnte die GLS in jedem Fall vorweisen: 400.000 Existenzgründungen zählte das Bonner Institut für Mittelstandsforschung allein 2008. Davon benötigen 200.000 einen Kleinkredit von bis zu 25.000 Euro, wie ihn die GLS anbietet, schätzt die KfW. "Für uns wirds jetzt erst interessant", sagt Zientz.

Interessiert ist auch die Konkurrenz: So bietet etwa die landeseigene NRW-Bank mit Sitz in Düsseldorf seit November 2008 ebenfalls Mikrokredite an - allerdings erst ab einem Volumen von 5.000 Euro und nicht wie bei den Bochumern bereits ab 1.000 Euro. Ansonsten kopiert die NRW-Bank das erfolgreiche Modell der GLS: Auch die Düsseldorfer verzichten auf eine eigene Prüfung des Unternehmenskonzepts. Statt der Mikrofinanzierer übernehmen das die Existenzgründungsberater der bei den Industrie- und Handelskammern oder den Handwerkskammern angesiedelten Starter-Center. "Wir sind zwar noch in der Pilotphase", sagt Caroline Fischer, Sprecherin der NRW-Bank. "Aber 40 Kredite haben wir bereits vergeben - und so 76 Arbeitsplätze geschaffen."

GLS-Mann Zientz blickt dagegen auch mit etwas Skepsis auf seinen Erfolg. Klar denke er darüber nach, wie viele seiner Kreditnehmer nur durch Selbstausbeutung überleben könnten, sagt er. Und ja, er habe von den Kiosken gehört, die praktisch rund um die Uhr geöffnet hätten, weil die Betreiber in Kammern hinter ihren Läden wohnen und schlafen, um bloß keine Kundschaft zu verpassen. "Deshalb", sagt er, "fordern wir als GLS auch das bedingungslose Grundeinkommen. Die Grundbedürfnisse wären abgesichert, und niemand müsste sich selbst ausbeuten."

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