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■ Entsteht in Bosnien ein islamischer Fundamentalismus?Eine selbstmörderische Option

Seit in Ex-Jugoslawien der Nationalismus aufzublühen begann, seit Slobodan Milošević in Serbien an die Macht kam, ist die Warnung vor dem muslimischen Fundamentalismus in den kroatischen, serbischen, montenegrinischen und russischen Medien ein wichtiges Propagandaelement. Vor dem Krieg in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina, als das Kosovo-Problem Konjunktur hatte, hieß es, die Gefahr eines muslimischen Fundamentalismus komme von den Albanern, über sie verfolgten die Fundamentalisten des Iran und des Nahen Ostens das Ziel, nach Europa einzudringen, um es zu unterminieren und zu zerstören.

Heute ist diese Variante außer Kurs. Nun macht man also dieselbe Gefahr bei den bosnischen Muslimen aus, die – so wird behauptet – den ersten islamischen Staat Europas zu gründen beabsichtigen, um jene Zerstörung der europäischen Zivilisation, die die Albaner nicht bewerkstelligen konnten, in Angriff zu nehmen. Seit die Serben und die Kroaten die Zerstückelung Bosnien-Herzegowinas vereinbart haben, beschwören sie diese Gefahr.

Dieses Spiel der orthodoxen und katholischen Fundamentalisten – denn um einen solchen Fundamentalismus genau geht es im exjugoslawischen Raum – ist durchsichtig. Es handelt sich um ein trügerisches, gleichwohl aber sehr wirksames Propagandainstrument. Der islamische Fundamentalismus ist eine der weltweit stärksten politischen Bewegungen. Er ist eine Zurückweisung der westlichen Zivilisation, ihrer Werte und ganz allgemein des westlichen Gesellschaftsmodells.

Der orthodoxe und der katholische Nationalismus in Serbien und in Kroatien sind gleichermaßen ausgesprochen antiwestlich. Sie sind große Gegner der westlichen Lebensweise. In der Politik weisen sie viele Analogien zu den islamischen Bewegungen auf. Trotzdem werden sie nicht müde zu betonen, daß gerade sie an der Schwelle zum christlichen Europa im heroischen Widerstand gegen einen angeblichen Ansturm des Islam zugrunde gehen. Diese Propaganda scheint gerade im bosnischen Krieg, in dem die Muslime viel mehr als die Serben und die Kroaten leiden und in dem ihre Existenz schlechthin bedroht ist, besonders lächerlich. Trotzdem wird immer wieder die Gefahr eines muslimischen Fundamentalismus beschworen. Man würde wahrscheinlich auch dann davon reden, wenn auch nur ein einziger Muslim in Bosnien-Herzegowina übrigbliebe, denn sie vermehren sich ja so schnell, sagt man, und könnten schon bald wieder eine Gefahr für Europa werden.

Wenn man auch diese These, die allzu offensichtlich dem Repertoire der Propaganda angehört, zurückweist, so bleibt doch die Frage: Gibt es unabhängig von dieser Propaganda nicht doch einen muslimischen Fundamentalismus in Bosnien-Herzegowina?

Man kann auf diese Fragen unmöglich eine präzise Antwort geben. Aufgrund der Greuel des Krieges ändern die Leute ihre Überzeugungen und Meinungen. Trotzdem, eine Sache kann der unbeteiligte Beobachter praktisch kaum bestreiten. Es gibt in Bosnien-Herzegowina islamische Fundamentalisten vor allem unter den Bewohnern der rückständigsten Regionen und in Kreisen der politischen und intellektuellen Elite. Aber vor diesem Krieg war ihre Anzahl nicht von Bedeutung. Sie hatten unter den Muslimen selbst kein wirkliches Gewicht und bedeuteten für Bosnien-Herzegowina keine Gefahr. Bis heute hat der islamische Fundamentalismus – als Strömung oder als Ideologie – unter den bosnischen Muslimen nie Bedeutung erlangt.

Als die Muslime Bosnien-Herzegowinas angegriffen wurden, waren sie eine friedliche und politisch nicht engagierte Bevölkerung. Der Plan und die Absicht des Angriffs bestanden darin, das Entstehen von Extremismus und Fundamentalismus zu provozieren. Das wiederum hätte dem serbischen Aggressor erlaubt, seine Massaker a posteriori zu rechtfertigen. Genau deshalb wird die Propaganda über den angeblichen muslimischen Fundamentalismus so heimtückisch verbreitet. In der kroatischen Presse läßt man sich über diesen Fundamentalismus lang und breit aus. Die Beispiele für Angriffe gegen Izetbegović – der als Alija lächerlich gemacht wird – sind zahllos. Von den noch perfideren Artikeln der serbischen Presse ganz zu schweigen: Izetbegović ist ein Gläubiger und soll sich deshalb von der Politik fernhalten, denn er analysiert die politischen Probleme durch das Prisma der Religion. Aber wenn er der Situation in Bosnien-Herzegowina nicht gewachsen ist, dann vor allem wegen der politischen Projekte Serbiens und Kroatiens. Er ist in jedem Fall nachgiebiger als seine serbischen und kroatischen Kontrahenten. Man kann sich zu Recht fragen, ob Izetbegović die beste Wahl war, um den Übergang Bosnien-Herzegowinas zu einem demokratischen Staat – die einzige Form, unter der er überlebensfähig ist – umzusetzen. Aber es ist zumindest lächerlich, die Religiosität Izetbegovićs zu einer Gefahr für Bosnien-Herzegowina und für die Serben und Kroaten, die dort leben, hochzustilisieren. Und es ist pure Propaganda, wenn es nun heißt, Izetbegović sei am Ausbruch des Krieges schuld, wo er doch vor dem Krieg alle möglichen Kompromisse einzugehen bereit war.

Aber trotz diesem Geschwätz über einen muslimischen Fundamentalismus stellt sich ernsthaft die Frage, ob jetzt, nach all den Verbrechen gegen die muslimische Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina, nicht doch eine fundamentalistische Bewegung entstehen kann. Die Voraussetzungen dafür sind jedenfalls gegeben: eine kollektive Tragödie; das Gefühl, unschuldiges Opfer zu sein; ein Unrecht, das mit der Komplizenschaft des Westens begangen wurde; die Armut; der Mangel an Perspektiven. Unter diesen Umständen könnte eine Bewegung entstehen, die dem islamischen Fundamentalismus durchaus ähnlich ist. In diese Richtung werden die bosnischen Muslime von all ihren Gegnern gedrängt. Und in der Tat: Wenn man diesen Muslimen nachweisen könnte, daß sie Extremisten werden, dann wäre ihre Position in Bosnien-Herzegowina wirklich unhaltbar. Dies verweist auf das Unheil, das die muslimisch-bosnischen Politiker, die sich in dieser Richtung bewegen, anrichten können. Eingeklemmt zwischen den Serben und den Kroaten, ohne politische Unterstützung in den großen internationalen Zentren, zu Extremisten geworden, würden sich die Muslime wirklich in einer Sackgasse wiederfinden. Angesichts dessen, was ihnen widerfährt, ist es ganz und gar normal, ja sogar berechtigt, daß sie sich als Muslime fühlen und sich mehr denn je als solche verteidigen wollen. Aber angesichts der bosnischen Realität ist dies eine selbstmörderische Option. Anders ausgedrückt: Gerade als unschuldige Opfer, als die Hauptopfer dieses Krieges, haben die Muslime kein Recht auf Irrtum. Ein solcher würde ihre Vernichtung bedeuten und den Sieg ihrer fundamentalistischen Gegner erleichtern. Stanko Cerović

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