: Entspannt umbauen
Seit 1990 wird die Staatsbibliothek Unter den Linden stückchenweise saniert und modernisiert – alles ohne eine vorübergehende Schließung. In vier Jahren soll der neue Lesesaal fertig sein
von THOMAS JOERDENS
Buchseiten rascheln beim Umblättern, ein Mann hustet. „Klick, klick, klick …“ Jemand tippt eine SMS ins Handy. Ansonsten Ruhe. Irgendwo klappt eine Tür, und ein schnarrender Bollerwagen wird vorbeigeschoben. Lauter wird’s nicht, so gehört sich das auch. In einer Bibliothek wird geforscht, gegrübelt, gebüffelt und nicht gelärmt. Das Ruhegebot gilt selbstverständlich auch in den Lesesälen der Staatsbibliothek Unter den Linden. Der Bauarbeitertrupp im Innenhof schert sich darum wenig. Der Job heißt zwar: vier Büchertürme „geräuscharm“ abreißen. Aber leise geht das nicht. Mit mannshohen dröhnenden Kreissägen und klopfenden Schlagbohrern zerlegen behelmte Männer im Blaumann Wände und Decken der 14 Geschosse in „handliche Portionen“. Sie messen etwa anderthalb mal fünf Meter und wiegen bis zu acht Tonnen. Ein Kranführer lässt die Betonscheiben in bereitstehende Container plumpsen, die per Lkw abtransportiert werden. Obwohl nur wenige Meter entfernt, lassen sich die Studenten und Wissenschaftler nicht aus der Ruhe bringen. Extra abgedichtete Fenster und schallmindernde Baugerüste schlucken einen Großteil des Krachs im Hof. Dort schaffen die Arbeiter seit Anfang des Jahres Platz für einen neuen Lesesaal.
„Das ist hier ein sehr ruhiger Ort und sehr entspannt“, bestätigt Martin André Völker, der in der Stabi an seiner Promotion arbeitet. Der Kulturwissenschaftler sitzt abseits der Lesesäle an einem der „provisorischen Arbeitsplätze“, ein grellweißer Tisch in einem neonbeleuchteten kahlen Raum. Vor sich ein Laptop und ein Buch und im Hof die verhängten Türme, von denen noch neun Stockwerke stehen. Verlegte Abteilungen, ausgelagerte Bestände und improvisierte Arbeitsräume in der Stabi begleiten den 31-jährigen Dozenten seit dem Wintersemester 1991/92, als er sich nebenan an der Humboldt Uni eingeschrieben hatte und zum Dauergast auf der Baustelle Staatsbibliothek wurde.
Seit 1990 wird das Stammhaus der umfangreichsten deutschen Universitätsbibliothek gesichert, saniert, rekonstruiert und modernisiert. Für den Komplex, dessen Bau sich von 1903 bis 1914 hinzog, ist es die erste Grundsanierung. Das ist an vielen Stellen sichtbar. Attika und Fassade leuchten sauber und hell. Im Saal des Systematischen Katalogs ist der Gammelcharme bereits Geschichte, weil frische Farbe, restaurierte Holzregale und Schränke wieder eine angemessen würdige Atmosphäre verbreiten. Und die wertvollsten Autographen lagern wohl behütet in einem nagelneuen vollklimatisierten Magazin. Andere lebensverlängernde Arbeiten am Haus bemerkt kaum jemand. Etwa das neue Dach oder, ganz wichtig, die Beseitigung der Setzungsschäden. 2.300 marode Holzpfähle, auf denen das größte Gebäudeensemble in Berlins Mitte wackelte, wurden durch Betonvarianten ersetzt.
Die spürbarste Veränderung steht noch ins Haus: der neue Lesesaal. „Das ist Hochbau. Jetzt geht’s los“, doziert der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Klaus-Dieter Lehmann. Was bisher geschah, ist aber auch kein Pappenstiel und kostete 132 Millionen Euro. Der Abriss der Türme erhöht die Rechnung um 19 Millionen Euro. Die Gesamtkosten wurden zu Beginn einmal auf 350 Millionen Euro geschätzt. Die Zahl will Klaus-Dieter Lehmann nicht kommentieren. Er schwärmt lieber von der „Bildungsachse“ zwischen den Stabi- Standorten. Das moderne Haus vis-à-vis der Neuen Nationalgalerie soll zur Ausleih- und Informationsbibliothek entwickelt werden und die alte Stabi Unter den Linden zur historischen Forschungsbibliothek. Dem Stiftungs-Präsidenten Lehmann fällt außerdem das Wort „Bildungslandschaft“ ein, wegen der fußläufigen Nähe zur Museumsinsel.
In dieser Bildungslandschaft soll die Staatsbibliothek zusätzlich die Funktion eines Leuchtturms übernehmen. HG Merz, Gewinner des Architektenwettbewerbs für den zentralen Lesesaal, plant einen „Lichtkörper“. Anhand von Skizzen und mit Holzmodellen erläutert der Architekt seine Idee: 500 Arbeitsplätze an lang gezogenen Tischreihen. An den Wänden des milchigen Glaskubus mit Holzschalung stapeln sich 3,5 Millionen Bücher, erreichbar über Treppen und Gänge. Tiefer gelegt soll der Raritätenlesesaal unterkommen. Der Entwurf lehnt sich ans Original des Stabi-Planers Ernst von Ihne an. Dieser hatte die Bücherstelle mit dem Kuppellesesaal ausgestattet, der im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Mit seiner modernen eckigen Lösung will HG Merz den wilhelminischen neobarocken Protzklotz im Innern „erleuchten“.
Mehr Licht täte der Stabi gut, gerade im Eingangsbereich des steinernen Vestibüls, das finster und bedrohlich wirkt. Licht ins Dunkel soll ein Durchbruch bringen, sodass Besucher künftig vom Eingang über die steile Treppe nur geradeaus weitergehen brauchen, um ihren Arbeitsplatz zu erreichen. Bisher schwenken die jährlich 38.000 Stabi-Besucher nach links oder rechts und verschwinden in einem der Lesesäle oder suchen in anderen Räumen ein ruhiges Plätzchen. Die Merz’sche „Inszenierung des Buchs“ verspricht auch ein Ende der weiten Wege im verzweigten Stabi-Labyrinth.
Schließzeiten während der Sanierung kamen und kommen nicht in Frage. „Ein weltweiter Dienstleister mit einzigartigen Beständen kann nicht einfach dichtmachen“, so die Begründung von Barbara Schneider-Kempf, kommissarische Generaldirektorin der Stabi. Die Hausherrin bietet ihren Kunden historische Drucke, abendländische Handschriften, Amstdruckschriften, Karten, Zeitungen oder Kinder- und Jugendbücher. Insgesamt etwa drei Millionen Bände – weitere 1,8 Millionen Titel, zumeist Zeitschriften, mussten mangels Platz ausgelagert werden, in ein altes Speichergebäude im Westhafen.
Der sei „schwer zugänglich“, kommentiert Stammgast Martin André Völker an seinem Arbeitstisch im Souterrain. Er muss zwar nun regelmäßig nach Moabit fahren, sieht aber keinen Grund zur Klage. Wirkliche Nachteile, wie Engpässe bei der Buchausgabe, habe er aufgrund der Bauarbeiten nie erlebt; schon eher während einer Grippewelle. Jungforscher Völker bezeichnet die Situation in der Staatsbibliothek als „kreatives Chaos“ und wird sie vermutlich auch so Erinnerung behalten. Sein Dozentenvertrag läuft im nächsten Jahr aus. Dann ist der neue Lesesaal noch lange nicht in Sicht. Dort sollen die Bibliotheks-Besucher in vier Jahren ihre Bücher aufschlagen können, sofern alles nach Plan läuft. Komplett abgeschlossen wären die Arbeiten erst 2011.