■ Entschleunigtes Leben: Der Traum von Muße und Ökologie der Zeit geht am Alltag der Menschen vorbei: Die Verheißung der Langsamkeit
Das Tagungsstakkato konfessioneller Akademien und Begegnungsstätten beschert uns seit Jahren einen verlockenden Traum: Die Entdeckung von Langsamkeit und Muße. Zeitfalten, die es zu genießen gilt, sollen den Übergang in neue ökologische Lebensstile ermöglichen. Angetrieben von der Hektik der Beschleunigung erwächst ein Kontrapunkt: am Ort zu verweilen (so er denn schön ist), sich der Besinnung zu überlassen, um sich vom Zwang nach Entfernungsbewältigung und Zeittotschlagen loszumachen. Die Ideologie des „immer weiter, immer schneller, immer mehr“ gebar ein Unbehagen, das sich nun in der Idee von der „Ökologie der Zeit“ Luft macht.
Kaum zufällig entsteht in einer Epoche, die durch den endgültigen Untergang von Vollzeitbeschäftigung und dauerhaften Arbeitsplätzen gekennzeichnet ist, die Erkenntnis, daß der Lebensstil des ewig mobilen Menschen umwelt- und selbstzerstörerisch ist. Was Wunder also, daß sich Widerstand formiert, der den Menschen aus der Zwangsjacke besessenen Zeitmanagements zu befreien trachtet. Die notwendige Umverteilung von Arbeitszeit und Arbeitsplätzen auf mehr Menschen wirft allerdings die Frage nach der dann entstehenden freien Zeit auf. Was tun, wenn nicht arbeiten? Dies läßt sich nicht durch rasche Aufrufe nach neuen, entschleunigten Lebensstilen und der vorschnellen Idealisierung der Muße beantworten. Denn die Strukturierung freier Zeit ist eine Herausforderung, der viele nicht gewachsen sind.
Eigene, nicht durch Arbeit und Versorgung strukturierte Zeit als positiv zu erleben, ist für die meisten Menschen eine Zumutung. Freizeit und die mit ihr potentiell drohende Gefühle von Leere, Sinnlosigkeit und Entfremdung führen in breiten Bevölkerungsteilen zum psychischen Zwang, Freizeit ausfüllen zu müssen, um krisenhafte Sinnfragen zu verdrängen. Die psychische Zumutung, innerlich beweglich – flexibel – zu sein, wird häufig durch äußere Bewegung – Mobilität – ersetzt.
Natürlich ging es auch früher nicht so voller Muße zu, wie das heute viele glauben wollen. Klagen über höllisches Tempo (per Kutsche) gepaart mit Lobliedern auf Rast und Ruhen sind keineswegs neu. Auch wurde in früheren Kulturen oder Zeiten jahreszeitlich bedingte arbeitsfreie Zeit nicht unbedingt mit Meditation verbracht. Notwendige Reparaturen und Versorgungsarbeiten dienten sicher nicht zuletzt der Zeitstrukturierung sonst „freier“ Zeit, die damals wie heute das psychische Gleichgewicht vieler bedroht hätte. Der Unterschied zu früher liegt heute in der Anzahl und Schnelligkeit der Reize, die in „freier“ Zeit geboten und aufgenommen werden.
Freie Zeit ist jedoch nicht bloß potentielle Bedrohung durch depressive Gefühle von Leere. Das Selbstwertgefühl vieler Menschen gründet sich ausschließlich auf Tätigkeit; Sitzen, Ruhen und Rasten wird als schuldhaft erlebt, das eigene Image vor sich und anderen hängt am vollen Terminkalender. Zudem ist freie Zeit für Arbeitslose Zeichen ihrer beschämenden Lage und vermeintlichen Defizite. Ihnen verschwimmt die Grenze zwischen freier Zeit, Versorgungstätigkeiten und ehemaliger Arbeitszeit zu einem lähmend depressiven Brei. Hüten wir uns also vor einer naiven Idealisierung von Muße und Entschleunigung, so wichtig die Verknüpfung von Zeitökologie mit Arbeits- und Umweltpolitik auch ist. Denn der schöne Traum wirkt bei Konkretisierung für viele Menschen abschreckend. Zeit wird deshalb ausgefüllt, durch Anregung und Arbeit, durch Reizsuche und Entspannung. Die eigenständige Regulation dieses Verhältnisses von innerer und äußerer Animation wie relativer Ruhe erfordert ein erhebliches Maß an innerer Steuerungs- und Abgrenzungsfähigkeit.
Ohne Zweifel: die sozial-ökologischen Probleme der Zukunft verlangen einen neuen Umgang mit der Zeit, von der bisher angenommen wurde, die Betroffenen würden sie schon irgendwie selbst regeln – wenn sie nur infolge gesamtgesellschaftlichen Fortschritts ausreichend vorhanden sei. Ein Abrücken von individuellen umwelt- wie sozialschädlichen Lebensstilen – so dies die ökonomischen Zwänge überhaupt zulassen – dürfte der Mehrheit von uns jedoch nicht ohne helfende Strukturierungsangebote von außen möglich werden. Es wäre politisch wie psychologisch naiv, die enge Verbindung zwischen individuellen wie materiellen Zwängen zu Hast und Ruhelosigkeit, die den meisten Bürgern durch die Infrastrukturen ihrer Lebens- und Arbeitszusammenhänge aufgenötigt werden, zu übersehen.
Die atemlose Arbeits- und Freizeitgesellschaft ist Ausdruck innerer Not wie äußerer Verelendung. Eine ökologisch weniger ausbeuterische und sozialere Freizeitgestaltung muß daher grundsätzliche Freizeitbedürfnisse und -ängste berücksichtigen. Denn dem Bedürfnis nach mehr Muße stehen gleichzeitig immer reizüberflutendere Aktivitäten im Freizeitbereich gegenüber: Bungiespringen mag nicht jedermanns Sache sein, aber flotte Jetreisen in die Stille der griechischen Inselwelt mehrmals im Jahr sind kein Minderheitenproblem. Die Unterschiedlichkeit verschiedener Lebensstilgruppen spiegelt zugleich auch eine grundsätzliche Ambivalenz wider: Erlebnishunger und Ruhebedürfnisse wollen gleichzeitig befriedigt werden. Der Erfolg von Freizeitparks und Urlaubscamps nährt sich aus dieser Motivlage.
Doch auch wenn weiterhin Freizeitmobilität und Rastlosigkeit den neuen Utopien Hohn zu sprechen scheinen, das wachsende Unbehagen am gegenwärtigen Mainstream-Lebensstil ist nicht nur als bloßes Lippenbekenntnis abzutun. Übergänge sind nicht eindeutig, sie sind widersprüchlich und vielschichtig. Der potentielle Wechsel zu anderen Arbeits- und Freizeitformen, bedarf äußerer Hilfestellungen. Wo das Neue zu unbekannt, wo das Alte zu liebgewonnen ist, entstehen andernfalls unüberwindbare Widerstände. Übergänge müssen kleinschrittig gestaltet sein, um Ängste nicht übermächtig werden zu lassen.
Wer die sozial-ökologische Wende wünscht, wird sich über die Zeitstrukturierung der Menschen Gedanken machen müssen. Umweltverbänden und -initiativen kommt die Aufgabe zu, Übergänge angstfreier zu ermöglichen. Freizeitangebote, die eine Mischung aus Anregung und Muße enthalten, können den Übergang vorstellbarer, die Utopie von bereichender Muße erlebbar machen. Ohne solche Hilfen werden Veränderungen in der Ökologie der Zeit kaum Akzeptanz finden. Micha Hilgers
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