„Entscheide dich für Wut“

■ Einmal in der Woche wird ahimterm Hauptbahnhof nach Leibeskräften gebrüllt: Hier wird die Wut trainiert. Das Ziel: Mehr Klarheit im Alltag durch kontrolliertes Toben

„Hallo Anja, du blöde Kuh!“ Die schlanke Frau mit den blonden Haaren reckt sich und schlägt zu, wieder und wieder, läuft rot an, die Haare fliegen, sie brüllt, ihre Stimme überschlägt sich. Stimmen feuern sie an. „Weiter, ja, mach weiter!“

Auf Momente der totalen Wut folgt Ruhe. Die Frau steht auf. Sie bekommt Applaus, Beifall dafür, dass sie ihre Gefühle rausgelassen hat. Die Frau, Ellen*, hatte soeben einen Wutanfall. Einen kontrollierten Ausbruch dessen, was sie ankotzt. Sie schlug nicht etwa Anja, die ist gar nicht anwesend. Ellen schlug mit einem hölzernen Stock auf eine Matte, mit aller Kraft. Draußen ist es dunkel, an der Plantage hinterm Bremer Bahnhof wohnt kein Mensch – niemand hört Ellens Gebrüll. Und das der anderen, wenn sie einmal in der Woche üben, Herr ihrer Gefühle zu werden. Wuttraining nennt sich der eineinhalbstündige Abend. Nach Bremen gebracht von Dorothea Lang. „Früher war ich immer sehr depressiv. Dann war ich drei, vier Jahre lang nonstop wütend“, sagt die Kommunikationstrainerin. So fing sie an, anderen zu helfen, ihre Wut zu spüren.

Die Idee hinter dem Wuttraining scheint so einfach wie einleuchtend: Wut ist ein Schritt ins Erwachsensein. Statt sich anzupassen, Situationen lächelnd hinzunehmen, die einem eigentlich stinken, soll es hier darum gehen, von Zwängen frei zu werden. Und die eigenen Grenzen deutlich dort zu setzen, wo andere sie dauernd überschreiten. Das lässt sich üben. Lang: „Und dann habe ich die Kontrolle über die Wut, und nicht sie über mich.“

Schreien, Brüllen, so entschieden sprechen, dass der eigene Aufruhr beim anderen ankommt – das Wuttraining soll Raum bieten, Frust einmal rauszulassen. Und umso ruhiger, verantwortlicher wieder dem Rest der Welt zu begegnen. Anfangs reden die Wütenden sich warm, sprechen im Trainingspartner ihre Eltern, Kollegen, Mitbewohner an. Keiner benutzt Schimpfworte, aber deutlich sind sie fast alle. Anne* nicht. Noch nicht. Sie ist älter als die meisten hier. Um die 50 statt um die 30. Zierlich, oft lächelnd, zurückhaltend. „Was ich mache, ist gut“, sagt sie zu ihrer imaginären Mutter – heftig, findet sie. Nicht heftig genung, findet das Gegenüber. Also nochmal: „Was ich mache, ist gut“, ruft Anne, „lass mich endlich in Ruhe.“ Schon besser, findet die Partnerin.

Frag nach dem, was du brauchst. Drücke deine Gefühle aus. Setze Grenzen. Sag ja/sag nein. Die Sätze stehen auf einem Blatt Papier, das an der Wand hängt: eine Art Anleitung. „Wir wären erwachsen, wenn wir einfach nur die Sätze befolgen“, sagt Dorothea Lang, „aber meistens schaffen wir es nicht.“ Das Wuttraining, das die gelernte Kunsttherapeutin Lang in Bremen anbietet, beruht auf einer Methode, die der Veranstalter „Bernstein-Trainings“ verbreitet. Entwickelt von Psychologen in der Arbeit mit Gefangenen im Hochsicherheitsgefängnis von Illinois/USA, ist es inzwischen Bestandteil der vielfältigen Selbstfindungslandschaft in Deutschland. „Das hier ist Training, keine Therapie“, betont Dorothea Lang. Es geht ums Üben, sein Verhalten zu ändern – um die darunterliegenden Muster geht es hier nicht.

Seit zweieinhalb Jahren leitet Lang Wutgruppen. Bevor die Wütenden in spe in ihre Gruppe kommen, versichern sie schriftlich, dass sie nicht psychisch krank sind oder Psychopharmaka einnehmen. Alles Gesagte bleibt im Raum, und Blut ist tabu. Dorothea Lang sagt, sie erkenne, ob einer ein Kandidat für völliges Ausrasten, für Kontrollverlust ist: „Der kommt nicht rein.“ Und wenn einer therapeutische statt Wut-Hilfe brauche, schicke sie ihn weiter.

„Vieles, was mit Gefühlen zu tun hat, kann man zwischenmenschlich klären und muss nicht immer sofort zum Therapeuten“, findet Lang, „eine Hebamme kann den Schmerz einer Frau bei der Geburt ja auch ertragen.“ Und nur für diesen Teil, Gefühle deutlich zu machen und auszuhalten, stehe Bernstein-Trainings.

„Du kannst dich für die Wut entscheiden“, sagt sie. „Entscheide dich für die Wut und flipp' aus“, sagt sie mit ruhiger, leiser Stimme zu Daniela*. Daniela liegt auf dem Boden, die Beine auf einer Matte, die Arme auf Decken, den Kopf auf ein Kissen gebettet. Daniela will ein „Tantrum“, einen kindlichen Wutanfall. Die anderen halten Matte, Decken und Kissen fest – und Daniela tobt los. Brüllt mit aller Kraft, wird knallrot, die Augen quellen hervor, die Füße strampeln auf der Matte, Fäuste trommeln auf die Decken. Danielas Körper bäumt sich auf, ein finaler Urlaut und erschöpft sinkt sie in sich zusammen. Stille. Sie öffnet die Augen, legt die Hände auf den Bauch, Momente der Besinnung. Dann richtet sie sich auf. Die anderen, die sie zuvor mit aller Kraft angefeuert haben, klatschen nun Beifall und sehen Daniela an. Daniela nimmt ihren Applaus entgegen, sieht sekundenlang einer jeden in die Augen, lächelt ein bisschen.

Was konstruiert wirken mag, ist wichtiger Bestandteil des Trainings: Die Teilnehmerinnen sollen lernen, dass ihre Gefühle richtig sind, so wie sie sind – auch die wenig sozialverträglichen. Den Beifall auszuhalten, fällt vielen schwer. Auf einen Ausbruch auch noch stolz zu sein, ist nicht einfach. Aber es lässt sich üben. „Du wirst dich herauskatapultieren aus deiner Opferhaltung: Mein Chef ist schuld, mein Partner ist schuld, meine Eltern sind schuld“, sagt Dorothea Lang, „Wut ist ein erschlaffter Muskel in uns, weil wir schon als Kinder gelernt haben, sie nicht auszudrücken.“ Statt irgendwann auszurasten, statt in Selbstmitleid oder Trauer zu versinken, soll die erlaubte Wut Energie freisetzen.

„Es ist immer wieder überraschend, es funktioniert tatsächlich“, sagt Daniela nach ihrem Tantrum, „ich kann mich für die Wut entscheiden.“ Auch wenn Dorothea Lang noch ein paar Teilnehmerinnen motivieren will – „das ist pure Lebensfreude“ – zu einem Tantrum gehört viel Überwindung, viel Vertrauen. Nicht alle Teilnehmerinnen nehmen das auf sich. Wohl aber die „Stockarbeit“. Nacheinander schlagen sie mit dem Holzstock, so lang wie ein Baseballschläger, auf die Matratze ein. Sie brüllen „Hey Mama, lass mich zufrieden!“ oder „Ich arbeite in Ruhe!“ oder „Kümmer dich um deinen eigenen Kram!“, hauen drauf, so heftig sie können, die Schläge hallen durch den Raum. Was von außen bedrohlich aussieht, fühlt sich ganz anders an. Die Wütende schlägt mit der Matratze nicht die Person, die sie beschimpft. Sondern lässt ihre Wut raus, pure Energie. Die Person, die Wutanlass ist, steht weit dahinter.

Das Training, sagen die Wut-Geübten, gebe ihnen Kraft. Hans*, einziger Mann in der Gruppe, hat einen ersten Erfolg verbucht. Eine Weiterbildungsmaßnahme war dem Arbeitslosen verwehrt worden. Nun ist er erneut zum Amt gegangen. Ist bestimmt aufgetreten. Hat gesagt, was er will. Klar und deutlich. Diese Maßnahme. Er hat sie bekommen. Susanne Gieffers

Mehr Infos und Anmeldung bei Dorothea Lang, 0421/79012861. Neben der gemischten Gruppe am Dienstagabend gibt es montags auch eine Männergruppe.

*Name geändert