: England im Flaggenstreit
Mit klebrigem Patriotismus gegen den Drachen der politischen Korrektheit
Die gute alte Sun. Wenn es den bedruckten Schmutzkübel nicht gäbe, dürften die Engländer zur Fußball-Weltmeisterschaft keine Flagge zeigen, schon gar nicht das englische St.-Georgs-Kreuz. „Die Sun zieht in die Schlacht, um das Recht aller englischen Männer und Frauen zu verteidigen, die Nationalfahne flattern zu lassen“, blies das kleinformatige Stammtischblatt zum Kampf. Die Kriegserklärung war mit dem Foto eines Säuglings illustriert, dem die Eltern das Georgskreuz auf die Glatze tätowiert hatten. Auf einem anderen Bild war ein dunkelhäutiger Fan mit Fahne zu sehen, was beweist, dass die ethnischen Minderheiten den patriotischen Taumel okay finden. Und natürlich gab es auch ein Foto eines Mädels im knappen St. Georgskreuz-Bikini neben einer Bulldogge, dem Nationalhund.
Grund für den klebrigen Patriotismus seien die kleingeistigen Spaßverderber aus der politisch korrekten Ecke, die jeden als Rassisten brandmarken, der eine englische Fahne schwenke, wetterte die Sun. „Im Geiste unseres Schutzpatrons ruft die Sun dazu auf, den Drachen der politischen Korrektheit zu töten“, hieß es in einem Leitartikel. Die zu tötenden Drachen waren schnell ausgemacht: Die Kabelfernsehgesellschaft NTL und die Supermarktkette Tesco haben ihren Angestellten verboten, Fähnchen an ihren Dienstwagen anzubringen, weil die Unternehmen neutral bleiben möchten. Taxifahrer in Blackpool dürfen keine Fußballhemden tragen, damit sie ausländischen Besuchern nicht die Laune verderben. Die Droschkenkutscher in Cheltenham dürfen keine Flaggen an ihren Taxis anbringen, weil sie Pferde scheu machen könnten. Derek Grist, Pferdebeauftragter der Polizei, erinnerte an die Verkehrsregeln: „Tiere dürfen nicht erschreckt werden.“
Auf der A 13 bei London liegen durchschnittlich drei entflohene Fahnen pro Meile. Wenn jemand durch eine vom Auto gewehte Fußballfahne verletzt werde, müsse der Fahrer mit einer Anklage wegen Körperverletzung und mit Schmerzensgeldforderungen rechnen, meint Grist. Wie kleinlich. Wer auf dem Schlachtfeld zu Schaden kommt, erhält den St.-Georgs-Orden und darf stolz sein. Das gilt auch für Flugreisende. Arbeiter auf dem Flughafen Heathrow dürfen sich keine Fahne ans Auto stecken, weil die vom Wind auf die Rollbahn geweht werden könnte. Na und? Wenn Starstürmer Wayne Rooney seine Gesundheit riskiert und trotz gebrochenen Fußes in Deutschland mitspielen will, dann kann man doch wohl von patriotischen Flugpassagieren verlangen, dass sie ein Fähnchen im Triebwerk in Kauf nehmen. Der Fahnenaufruf der Sun hat einen Teilerfolg erzielt. Londons Taxifahrer und die Tesco-Angestellten dürfen nun doch Fahne zeigen. Man habe dem Druck der Öffentlichkeit nachgegeben, sagte ein Tesco-Manager. Bob Peedle, der stellvertretende Vorsitzende der „Royal Society of St. George“, die sich der Liebe zu England verschrieben hat, sagte: „Wir freuen uns, dass Tesco zur Besinnung gekommen ist. Die Fahne darf natürlich nicht für politische oder kommerzielle Zwecke missbraucht werden.“
Ach? Es gibt so gut wie nichts, auf das die christliche Flagge nicht aufgedruckt ist: Hängematten für Hunde, Autoreifen, Kreditkarten, Kinderwagen, Damenschlüpfer und Untersetzer für warmes Bier, das englische Nationalgetränk. Ausgerechnet die deutsche T-Mobile hat rechtzeitig zur WM ein Handy mit Videoausschnitten vom berüchtigten Endspiel 1966, das England mit 4:2 gegen Westdeutschland gewann, auf den englischen Markt gebracht. Insgesamt dürfte das Geschäft mit der Weltmeisterschaft 1,25 Milliarden Pfund wert sein. Es gibt aber auch Nützliches: zum Beispiel die Fahne als Sabberlätzchen, wenn den Fans am Fernseher vor lauter Aufregung das warme Bier aus dem Maul läuft. Und wenn das Team nach der Vorrunde ausscheidet, kann man das Lätzchen auf Halbmast hängen. RALF SOTSCHECK