Engländerinnen spielen sich in Rausch: Im krassen Angriffsmodus

England gewinnt bei der EM gegen die vermeintlich gleichstarken Norwegerinnen mit 8:0. Derartige Kantersiege häufen sich. Warum nur?

Beth Mead zieht mit ungläubigem Blick das Trikot vor den Mund

Fassungslos: die dreifache Torschützin Beth Mead ist vom eigenen Erfolg überwältigt Foto: Alessandra Tarantino/ap

„Ich kann kaum sprechen, weil mein Lächeln so breit ist. Besser wird es nicht!“, schreit ekstatisch die englische Kommentatorin. Da steht es erst 4:0 für die Engländerinnen gegen Norwegen, sie hat ja keine Ahnung, was noch kommt.

Die sechs Männer im spärlich besuchten Pub, die zu Anfang eher halbherzig und kichernd hingeschaut haben, stehen jetzt unter Strom. Beim 2:0 sprachen sie noch über den neuen Elvis-Film, das 4:0 wird beklatscht, beim 6:0 bricht Johlen aus. „It’s amazing“, ruft der offenbar einzige fürs Spiel gekommene Fan immer wieder. „They’re on fire.“ Sind sie in der Tat, am Ende steht es 8:0.

Es ist ein Rekordergebnis für eine EM der Männer oder der Frauen. Das englische Team spielt sich gegen hilflose Norwegerinnen in einen regelrechten Rausch. Die erneut als Organisatorin der Offensive herausragende Beth Mead steuert drei Treffer bei und schickt sich an, eine der Spielerinnen des Turniers zu werden. Ellen White, die zweimal trifft, luchst vorn mit Terrier-Qualitäten Bälle ab. Den Reigen eröffnet cool per Elf­meter Georgia Stanway, ob deren Verpflichtung sich der FC ­Bayern nur beglückwünschen kann.

Nach dem etwas wackeligen und nicht immer attraktiven Eröffnungsspiel haben die Gastgeberinnen nun ein öffentliches Momentum, wie sie es sich nicht hätten erträumen können. Wer weiß allerdings, was geschehen wäre, hätte England nicht zum Auftakt einen zweifelhaften Elfmeter, herausgeholt durch eine theatralisch darniedersinkende White, geschenkt bekommen. Der öffnete alle Schleusen.

Nun haben die Britinnen ihre Traumnacht – und der Rest Europas eine Kantersieg-Debatte. Nach dem 5:1 der Französinnen gegen Italien und dem 4:0 der Deutschen gegen Dänemark ist dies das dritte Spitzenspiel, bei dem ein Team das andere in Grund und Boden rennt. Mit dem altbekannten Problem des Frauenfußballs lässt sich das nicht erklären. Die Qualitätslücken sind längst kleiner geworden. Die Underdogs aus Nordirland, Portugal und Finnland kamen nicht so unter die Räder.

Überlegenheit der Physis

Die EM-Kantersiege reihen sich auffällig in die Ergebnisse der Vorbereitung ein. Kurz vor dem Turnier schlugen die Deutschen die Schweizerinnen mit 7:0, England den Mitfavoriten Niederlande mit 5:1. Oft sind es gerade nicht die besonders rückständigen Teams, die hier geschlachtet werden; England und Norwegen trennen in der Weltrangliste nur wenige Plätze. Das Star-Ensemble dürfte eigentlich nicht mit 0:8 verlieren.

Wie erklärt sich das scheinbar Unerklärliche? Zwei Faktoren sind auffällig: zum einen der physische Unterschied. Mit England und Deutschland sind es zwei sehr aggressiv pressende, körperliche Teams, die jeweils zweimal Gegnerinnen völlig zerlegten. Sehr sichtbar war die Überlegenheit in der Physis auch bei den Französinnen gegenüber den Italienerinnen. Offenbar ist der brachiale Angriffsmodus eine Spielweise, mit der viele Teams noch kaum konfrontiert werden.

Und zweitens scheint es eine taktische Qualitätslücke zu geben. Bei den Norwegerinnen fielen fast alle Gegentore über die linke Abwehrseite. Immer wieder ließ sich dasselbe Spiel beobachten: Mittelfeldspielerin Julie Blakstad ließ Beth Mead viel zu viel Raum, die war durch, zog teils bis zu drei Verteidigerinnen auf ihre Seite und kreierte damit ein riesiges Loch in der Mitte, wo problemlos eine Engländerin einnetzen konnte. Verteidigerin Maria Thorisdottir erlebte derweil einen ganz schwarzen Tag.

Warum Norwegens Trainer Martin Sjögren überhaupt nicht reagierte, blieb rätselhaft

Warum Trainer Martin Sjögren überhaupt nicht reagierte und dem Team eine Halbzeit lang phlegmatisch dabei zusah, wie es nach gleichem Schema ausgespielt wurde, bleibt völlig rätselhaft. Ähnlich bei Italien, das Kadi Diani einfach nicht in den Griff bekam und meterweit weg von den Gegnerinnen blieb. Die Schnelligkeit der französischen Offensivspielerinnen, die immer wieder durch die Kette stießen, müsste doch bekannt sein. Die kleinen Teams spielen demütiger und variabler als die großen, die bei Unerwartetem erstarrten wie das Reh vorm Scheinwerfer. Bei der Flexibilität der Trai­ne­r:in­nen scheint die Qualitätslücke tatsächlich noch groß.

Das könnte, falls es so weitergeht, tatsächlich ein Problem fürs Turnier sein. Sehr viele solcher Spiele verträgt eine EM nicht. Vorerst ist der Kantersieg Stimmungsmacher, zumindest in England. Die Presse jubelt über eine historische Nacht. Die fünf Männer (der Sechste guckt Pferderennen) sind in ihrem Interesse gepackt. Was für ein Spiel! Dass das bei entschiedener Lage kippen kann, zeigt sich allerdings auch: Zur Halbzeit wird der Pub noch leerer. Da steht es 6:0. „Ich kann mich gar nicht erinnern, wann Norwegen die letzte Chance hatte“, sagt der eine verbliebene Fan zum Wirt. Er meint das als Kompliment.

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