: Endlich, endlich kommt einmal
Früher bewunderte man Christa Wolf für ihre Hoffnung auf den wahren Körper. Mit ihrer neuen Erzählung, „Leibhaftig“, ist sie vor der eigenen Haustür angekommen und muss endlich nicht mehr bedeutsam sein. So macht es wieder Spaß, sie zu lesen
Von SUSANNE MESSMER
Es war ungefähr Anfang der Neunzigerjahre, jedes Semester ein großer Streik gegen die Einführung von Semestergebühren. Viele Studierende saßen bei billigem Kuchen in den Cafeterias herum und dachten nicht im Traum daran, dass man sein Studium schon nach zehn Semestern abschließen könnte. Es war wahnsinnig wichtig, in jedem Gespräch etwas über „Macht“ und „Kontrolle“ zu sagen, über die „Unterdrückung der Affekte“ und das „Verschwinden des Körpers“. Viele Männer liefen freiwillig mit in die Germanistikseminare, in denen es um weibliche Schreibweisen ging. Und wenn nicht Ingeborg Bachmann dran war, dann ging es um Autorinnen aus der DDR und allen voran um Christa Wolf.
Das war besser als Schule. Denn was waren das für beeindruckende Frauen! Sarah Kirsch, Monika Maron und Sigrid Damm, was machen die wohl jetzt? Christa Wolf, die man auf Fotos an großen Tischen sitzen sah, mit vielen Freunden, die Herbe, Dunkle, herzlich, beinahe mütterlich, solidarisch wie der Ton ihrer Bücher. Die wilde Irmtraud Morgner, deren lustige Bücher wie zwischen Tür und Angel wirkten, immer auf dem Sprung von der Arbeit an den Herd und zurück; die traurige Inge Müller – ihr Gatte Heiner hat ihr ungefähr so viel zu verdanken wie Brecht seinen Frauen –; Brigitte Reimann, die in ihren Tagebüchern gestand, so viele Männer zu verbrauchen wie andere Frauen Taschentücher, und die sanfte Maxi Wander, die das erste echte Stück Dokumentarliteratur schrieb, das die DDR ganz bestimmt nicht in Auftrag gegeben hatte. Die Morgner, die Müller, die Reimann, die Wander, alle sind zu früh gestorben – Selbstmord oder Krebs. Was war es, was so faszinierte an diesen Frauen?
Während in den 70ern die Frauen im Westen noch in politische Kämpfe verwickelt waren, hatte man im Osten den Kopf schon früher ein bisschen freier. Und doch waren viele, die zur Aufbaugeneration der DDR gehörten, tief enttäuscht über die Entwicklung, die ihr Sozialismus genommen hatte. Die Freiheit, Gleichheit, die Brüderlichkeit, das alles war nicht eingelöst worden. Und so begann man, auf das utopische Potenzial der besseren Hälfte zu hoffen. Schon aufgrund ihrer anderen Körperlichkeit, dachte man, könne die Frau gesellschaftliche Veränderungen bewirken, zu denen der Mann nie imstande wäre. Das war die eine Seite. Auf der anderen Seite setzte der Zweifel ein, ob überhaupt noch etwas zu retten sei. Arbeiten und doch nie in die oberen Führungsetagen kommen, Familie haben und doch nie Zeit für sich selbst – langsam verlor man den Ausblick auf die glückliche, erfüllte sozialistischen Persönlichkeit aus den Augen. Man beschrieb den Körper als malträtierten. Was hätte glaubwürdiger sein können, als die eigene Prophezeiung zu erfüllen und zu sterben? Christa Wolf, die überlebt hat, hat dieses Martyrum, dieses Leiden an gesellschaftlichen Zwängen, eindrücklich beschrieben.
Der symbolische Krebs zum Beispiel bildet das Zentrum von „Nachdenken über Christa T.“, ihrem berühmten Roman von 1968. Die Leukämie, an der Christa T. schließlich stirbt, dient nur der Anklage der gesellschaftlichen Zwänge, der neuen „Tatsachenmenschen“, die Christa T.s Traum vom wahren Sozialismus zerstören. Die Krankheit selbst kommt eigentlich kaum vor, sie dient als Instrument der Kritik. In Christa Wolfs Übersetzungen antiker Stoffe in feministische Literatur, „Kassandra“ von 1983 und „Medea“ von 1996, halten die Körper zur Errichtung von Zukunftsvisonen her. Es geht um die Suche nach einer weiblichen Körperwahrheit, die auf dem Weg von der matriarchalen zur patriarchalen Gesellschaft verloren gegangen ist. Während Medea Kolchis, die mythische Heimat, noch als „eigener vergrößerter Leib“ galt, kann sie die verhärteten Körper der Männer von Korinth nicht deuten. Korinth, das besessen ist von der Gier nach Gold, entgleitet ihr.
Heute ist einem das alles ein bisschen peinlich geworden, auch die eigene Begeisterung. Man erinnert sich an die moralische Instanz, die man nicht wahrhaben wollte, die Christa Wolf aber eben doch spazieren trug wie eine Trophäe: diese Polemik, dieser hoch erhobene Zeigefinger. Heute weiß man, woher diese utopischen Ideen stammen – die organische Gemeinschaft, Arbeit und Leben und der befreite Körper –: Stichworte aus dem Repertoire der konservativen Revolution und der Lebensreformbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Man hat gelesen und für wahr befunden, dass der Körper ein soziales Konstrukt ist, dass das Geschlecht nicht vom Himmel fällt. Und nun hat Christa Wolf ein neues Buch geschrieben. Man könnte also Bedenken haben.
Ob es ihn immer noch gibt, diesen spezifischen Sound, der einen womöglich noch immer kitschig berührt, Gemütlichkeit wider Willen? Nein. Mit „Leibhaftig“ ist Christa Wolf beim Leib angekommen, wie er nun mal ist, bei einer distanzierten, belustigten Sicht auf sich selbst, die nichts mehr zu tun hat mit Bedeutungsschwere. Und so ist sie im Heute gelandet.
„Leibhaftig“ ist eine angenehm unspektakuläre und gerade deshalb mitreißende Krankheitsgeschichte: Lakonisch wird berichtet, wie ein namenloses Ich, von dem auch in der dritten Person die Rede ist, wegen Blinddarmdurchbruch fünfmal operiert werden muss. Unsentimental werden die Eiterherde aufgezählt, plastisch geht es um die schlechte Federung der Krankenwagen, um Schläuche, die in den Bauch führen, Röhren, in die man zur Computertomografie muss, um Schnabeltassen mit Kontrastflüssigkeiten, die man kaum herunterbekommt, um den Schweiß, der die Schwestern zwingt, die Wäsche so oft zu wechseln, bis keine mehr da ist. Die Krankenpfleger holen ihre Patientin mit hilflosen Kalauern auf den Boden zurück und die Chefärzte ärgern sich sehr über deren Selbstmitleid, das den Heilungsprozess aufzuhalten scheint. „Leibhaftig“ ist autobiografisch inspiriert: Die Autorin selbst war es, die 1988 einen Blinddarmdurchbruch hatte. Dass Christa Wolf immer wieder krank geworden ist, wenn es schwierig wurde, kann man sich jetzt auch von der gerade erschienenen Biografie von Jörg Magenau bestätigen lassen (Jörg Magenau: „Christa Wolf. Eine Biographie“. Kindler, München 2002, 448 Seiten, 24,90 Euro).
Wer aber wie einige Rezensenten deshalb meint, Christa Wolf habe noch einmal den Körper als Gleichnis benutzt, der hätte genauer hinsehen sollen. Die Passagen in „Leibhaftig“, in denen sich die Erzählerin in ihren Fieberträumen am drohenden Untergang der DDR und an alten Geschichten aus dem Krieg abarbeitet, sind nicht kausal verknüpft mit der Krankheit. „Leibhaftig“ ist kein Buch, in dem die Autorin ein weiteres Mal auf die Leiden der Welt hinweist. Bravourös hat sie ihre Rolle als Mahnerin und Warnerin abgestreift, hat Schluss gemacht mit der Repräsentation. Stattdessen hat sie ein Buch über einen winzigen Ausschnitt Welt geschrieben, mit einer Genauigkeit, die einen in die Geschichte hineinzieht wie ein Krimi.
Inzwischen hat sich die DDR ihren Verbesserungsvorschlägen entzogen. Wer kranke Körper als Metapher für krank machende Gesellschaftssysteme benutzt und gesunde für den Traum von einer gesunden Gemeinschaft, der wird nie durchdringen zum Fleisch und zu den Knochen; das weiß Christa Wolf in ihrem neuen Buch ebenso wie die jungen Studentinnen, die sie jetzt vielleicht wieder lesen werden. Wer da noch immer den kaputten Blinddarm als Sackgasse begreift, in der die DDR damals steckte, der ist der Macht der Gewohnheit auf den Leim gegangen. In „Leibhaftig“ soll der Körper auf nichts mehr verweisen außer auf sich selbst. Das macht Freude, das taugt auch wieder zum Seminarthema.
Es ist aufregend, wie sich Wolfs Interesse an der Ursachenforschung ins Somatische verschoben hat. Wie sie sich eher für die Schulmedizin, die Medikamentierung ihres Herzrasens interessiert, eher für das Zustandekommen eines Mineralmangels, das ihren Körper zusätzlich belastet, als für die langweiligen psychischen Verwicklungen, in denen sie steckte. Als sie zu ihrer Anästhesistin, in die sie sich etwas verguckt hat, sagt: „Wenn man bedenkt, wie alles sich immer wiederholt“, antwortet diese: „Jetzt werden sie banal.“
Nicht, dass es sie nicht gäbe, die „Sinnhaftigkeit“, diese Stellen im Buch, wo die Fiebernde im Labyrinth des Hades den Opfern des Faschismus begegnet. Und dann diese Immunschwäche. Fünf Operationen, das wäre nicht nötig gewesen, woher kommt also diese Immunschwäche? Dass „Leibhaftig“ auch vom Kulturfunktionär und Selbstmörder Urban erzählt, der übrigens den Vorsitzenden des Rates für Kultur- und Kunstwissenschaften, Hans Koch, zum Vorbild hat, hat viele Rezensenten „Leibhaftig“ als neues DDR-Buch lesen lassen. Ist es aber nicht: Denn Urbans Geschichte ist nicht ihre Geschichte. Deshalb kommt sie über den Berg. Sehr schön hat sie da etwas auf die leichte Schulter genommen, sehr erstaunlich für eine, die alles auf sich nahm, auch den Dienst bei der Stasi.
„Endlich, endlich kommt einmal“: Christa Wolf, stets den großen gesellschaftlichen Themen verpflichtet, ist vor der eigenen Haustür angekommen. Beinahe heroisch, wie sie das Heroische verabschiedet. Es ist dieser Abschied von Bedeutsamkeit, der bei „Leibhaftig“ so Spaß macht. Wie Christa Wolf versucht, sich Metaphern vom Leib zu halten, das wirkt beinahe schelmisch, so als würde sie mit Vergnügen die Erwartungen ihrer alten Leser enttäuschen. Es kann trivial sein, vom Bett auf einen Operationstisch gewuchtet zu werden.
Christa Wolf: „Leibhaftig“. Luchterhand, München 2002, 180 Seiten, 18 €
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