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Archiv-Artikel

Endlich Stille

Der alte Mann und seine Zweifel: Der norwegische Autor Per Petterson erzählt in dem unaufgeregten und lebensklugen Roman „Pferde stehlen“ von Adoleszenz, Liebe und Tod

Verwirbelungen eines Lebens – doch die stärksten Szenen hat der Roman, wenn der Mann allein ist, allein mit seinen Gedanken

Ein Mann wartet auf den Tod. Oder vielleicht auf etwas, was davor noch kommen könnte. Vergebung? Innere Ruhe? Ein Zusichselbstkommen, endlich? Er ist allein, nur Lyra, seine Hündin, ist bei ihm, an einem Ort, den er zuvor noch nicht kannte, diesen nicht, aber einen ähnlichen, Jahrzehnte zuvor, ein Schlüsselort für sein weiteres Leben. Trond heißt der Mann, ist 67 Jahre alt, bewohnt eine Hütte in der Nähe eines Flusses, irgendwo in Norwegen, an der Grenze zu Schweden. Vieles fällt ihm nicht mehr leicht, einiges von dem, was diese Existenz täglich von ihm fordert, hat er auch nie gelernt, aber er bemüht sich, und ganz genau können wir das alles ohnehin nicht wissen. Wir erfahren, in Rückblenden, jede Menge über seine Jugend. Wir nehmen in äußerster Detailliertheit an seinem gegenwärtigen Leben teil.

Und die Zeit dazwischen? Wie Bruchstücke an einen Strand spült der 54-jährige norwegische Schriftsteller Per Petterson die Lebensstationen Tronds in seinen Roman „Pferde stehlen“ – eines Tages taucht eine Tochter auf, von einer Frau ist die Rede; davon, dass es mit ihm, Trond, nicht immer einfach gewesen sei. Und davon, dass er das, was von einer Firma noch übrig gewesen sei, verkauft habe, weil er nicht mehr habe weitermachen können wie bisher: „Mein ganzes Leben lang habe ich mich danach gesehnt, an einem Ort wie diesem zu sein. Auch in schönsten Zeiten, und die waren nicht selten. So viel kann ich sagen. Dass sie nicht selten waren. Ich hatte Glück. Doch auch dann, zum Beispiel inmitten einer Umarmung, wenn mir jemand Worte ins Ohr flüsterte, die ich gerne hörte, konnte ich mich plötzlich weit weg sehnen an einen Ort, an dem es einfach nur still war.“ Diesen Ort hat Trond nun gefunden.

In die Situation der Abgeschiedenheit hinein platzt eines Tages die Vergangenheit in Gestalt von Tronds Nachbar, ein seltsam unbeholfener Mann, ein Außenseiter, der Trond bekannt vorkommt aus einem fernen Leben. Und nach und nach dämmert es Trond, dass dieser Mann Lars ist, der Bruder von Jon, seinem besten Freund aus jener Zeit in den Vierzigerjahren, als der fünfzehnjährige Trond mit seinem Vater in eben einer solchen Hütte am Fluss im Grenzgebiet gelebt hat.

Jon, der seine Waffe ungesichert im Flur hatte stehen lassen, sodass der jüngere Lars sie als Spielzeug benutzen und damit versehentlich seinen Zwillingsbruder erschießen konnte. Jon, der danach nie mehr so sein konnte wie zuvor. Tronds Vater, der gemeinsam mit Jons schöner Mutter während der deutschen Besatzung politisch Verfolgte unter Einsatz ihres Lebens über den Fluss hinüber nach Schweden brachte – und mit Jons Mutter eine letztendlich auch für Trond folgenreiche Liebesbeziehung eingeht, hat nie über diese Vorkommnisse und nie über sich gesprochen. Eine Leerstelle ist geblieben, die nun wieder aufreißt. Die Erinnerung kehrt zurück, und Trond ist bereit, sich ihr noch einmal zu stellen.

Das sind die Verwirbelungen, in denen dieser grandiose Roman kreist, der erstaunlicherweise jedoch seine stärksten Szenen hat, wenn nichts geschieht, wenn der alte Mann mit sich allein ist und mit seinen Gedanken, mit seinen Zweifeln. Diese Passagen, die von einem Menschen erzählen, der versucht, eins zu werden mit seiner Landschaft, wie er es einstmals schon einmal war, die in einer einfachen, klaren, schnörkellosen Sprache erzählt sind, sind so lebensweise wie unsentimental, so tief berührend wie pathosfrei.

So wie der Fluss hinter dem Haus ist auch Tronds Gedankenwelt in stetiger Bewegung, allein die Zeitgrenzen sind hier aufgehoben und die Prioritäten haben sich verschoben – kurz vor dem großen Fest des Jahrtausendwechsels ist die Erinnerung an einen 50 Jahre zurückliegenden Ritt mit dem Vater ebenso bedeutsam wie der im Hof umgestürzte Baum, der beseitigt werden muss.

Nur der Jahrtausendwechsel selbst, der ist nicht mehr bedeutsam. Tronds Konzentration, die dauerhaft spürbar ist, richtet sich auf die wichtigen Dinge, auf die späte Versöhnung der Widersprüche seines Lebens, auf das Aufgehen in der Landschaft, die er sich gewählt hat: „Und wenn jemand behauptet, die Vergangenheit sei ein fremdes Land, in dem die Leute anders handeln, dann habe ich es wohl die meiste Zeit so empfunden, weil ich dazu gezwungen war, aber das will ich nicht länger.“

CHRISTOPH SCHRÖDER

Per Petterson: „Pferde stehlen“. Roman. Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger. Carl Hanser Verlag, München 2006. 248 Seiten, 19,90 €