: Ende der Tempokratie
■ Beitrittstermin und erste Anzeichen von Politik
KOMMENTARE
Der 3. Oktober ist kein „großer“ Tag in der deutschen Geschichte. 1918 erklärte Prinz Max von Baden die Kapitulation; 1989 erklärte Honecker, daß die „DDR ein fester Sperrriegel“ sei. Am 3. Oktober geht etwas zu Ende, die kaiserdeutsche Kriegsmaschine, die Zukunft des Sozialismus und in diesem Jahr die DDR. Besser eine solche Datierung als die Beschwörung der Herbstrevolution. Der 3. Oktober ist schlicht der „schnellstmögliche“ Beitrittstermin, und jetzt ist es gut so.
Die politische Fiktion einer gleichberechtigten Vertragsbeziehung zwischen beiden deutschen Staaten, die Gysi Mittwoch nacht noch vor einer trüben Volkskammer beschwor, ist beendet. Was die DDR-Regierung am Verhandlungstisch gewann und gewinnen wollte, wurde längst von den Kosten überholt, die das üble Spiel geteilter politischer Verantwortlichkeiten, das Spiel zwischen hüben und drüben, zwischen Bonn und Ost-Berlin für jeden Deutschen mit sich brachte. Jetzt, da der Termin feststeht, kann sich die Politik nicht mehr hinter der Terminfrage verstecken. Jetzt geht es nicht mehr darum, ob etwas schnell genug geht oder verzögert wird. Ab jetzt geht es um die wirklichen Fragen.
Lag es daran, daß jetzt überhaupt wieder Politik aus den Sachzwängen auftauchen kann? Die gestrige Bundestagsdebatte jedenfalls war die erste Debatte seit mehr als einem halben Jahr, in der es nicht mehr darum ging, ob „das Tempo richtig“ sei oder nicht. Lafontaine hat auch zum ersten Mal nicht mehr den Rechnungsprüfer der Einheit gespielt, sondern die wirklichen Fragen genannt (jedoch nicht beantwortet). Er forderte, daß der „Einigungsprozeß demokratisch organisiert“ werden müsse; er hat darauf hingewiesen, daß die Wirklichkeit der Menschen im geeinten Deutschland sich nicht mehr mit einem Begriff der Nation, der auf die Abstammung bezogen ist (GG Art.116), verträgt, und er hat das Grundgesetzgebot der „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“, das ja auch für die ehemaligen DDR -Bürger gilt, thematisiert. Da beginnt der Streit. Von der Beantwortung dieser Fragen hängt ab, was ein vereintes Deutschland sein wird. Der Beitritt der DDR selbst beantwortet diese Fragen in keiner Weise.
Klaus Hartung
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen