: „Eiserne Faust“ in den besetzten Gebieten
■ Volksaufstand oder eine der üblichen Protestwellen? / Frustration über Leben unter der Besatzung und Hoffnungslosigkeit angesichts der Ablehnung von Lösungsvorschlägen durch israelische Regierung lösten spontane Bewegung in Westbank und Gaza–Streifen aus
Aus Tel Aviv Amos Wollin
Von den schwersten Unruhen seit der Eroberung der Westbank und des Gazastreifens durch israelische Soldaten im Juni 1967 ist die Rede, ja sogar hohe Offiziere haben die Ereignisse der letzten Woche als „Volksaufstand“ bezeichnet. Die Führer der Rechtsparteien ziehen mittlerweile jedoch heftig gegen diese Terminnologie zu Felde, weil sie der „feindlichen Propaganda der PLO in die Hände spielt“ - und dies zu einem Zeitpunkt, als sich der Weltsicherheitsrat mit den schweren Zusammenstößen zwischen meist jugendlichen Palästinensern und israelischen Soldaten sowie den Methoden der „eisernen Faust“ in den besetzten Gebieten befaßt. Der Tropfen, der das Faß der Frustration und politischen Perspektivlosigkeit der Palästinenser im dicht besiedelten, von hoher Arbeitslosigkeit geprägten Gaza– Streifen zum überlaufen brachte, war ein Autounfall, bei dem vor einer Woche vier palästinensische Arbeiter ums Leben kamen. In Gaza tauchte schnell die Behauptung auf, ein schwerer israelischer Lastwagen sei in voller Absicht mit zwei arabischen Fahrzeugen kollidiert, um die Ermordung eines israelischen Geschäftssmann in der gleichen Stadt, einige Tage zuvor, zu rächen. Erste Protestaktionen breiteten sich blitzartig in allen Teilen des Gaza–Streifens und der Westbank aus. Es kam zu regelrechten Straßenschlachten zwischen steinewerfenden Palästinensern und schwerbewaffneten Militäreinheiten. Eine exakte Bilanz der Opfer der vergangenen sieben Tage ist kaum zu erstellen. Palästinensische Quellen sprechen von 25 Toten und Hunderten von Verletzten in der arabischen Bevölkerung. Is raelische Offiziere weisen diese Angaben als Übertreibung zurück; sie lassen nur ein Drittel der von palästinenischer Seite genannten Zahlen gelten. Im Zuge der letzten Woche nahm die Intensität und der Massencharakter des palästinensischen Widerstands gegen die Besatzung von Tag zu Tag zu. Was diese spontanen De monstrationen von früheren Protestaktionen unterscheidet, ist die Härte der Auseinandersetzung und das vor allem unter den Jugendlichen weit verbreitete Gefühl, nichts mehr zu verlieren zu haben. Heute nehmen alle Schichten und Altersgruppen, Frauen und Männer an den Protestaktionen teil. Vor diesem Hintergrund fiel das Wort des „Volksaufstandes“. Die Versuche der Regierung, gegen diese Terminologie zu Felde zu ziehen, eröffnete zugleich eine politische Kontroverse in Israel. „So wie terroristische Anschläge die Israelis vereinen, so spaltet der unbewaffnete palästinensische Massenwiderstand gegen Besatzung und Besatzer die israelische Gesellschaft“, kommentierte Professor Jehoschua Porat, bekannter Spezialist auf dem Gebiet der Geschichte Palästinas an der Hebräischen Universität von Jerusalem, die jüngsten Ereignisse. Er ließ gegenüber der taz keinen Zweifel daran, daß die neue Welle der „Unruhen in den besetzten Gebieten“ erste Anzeichen eines Massenaufstandes der palästinensischen Bevölkerung zeigt. Die offizielle Version der israelischen Behörden weist er zurück. Dort heißt es, „arabische Unruhen, von terroristischen Organisationen der PLO organisiert“, stellten nur „einen Höhepunkt periodisch auftretender Wellen der anti–israelischen Mob– Gewalttätigkeiten“ dar, „mit der Absicht, Israel zu vernichten und ganz Palästina zu erobern“. Porat verweist darauf, daß die israelischen Truppeneinheiten und Panzerwagen für kurze Zeit die „Ruhe“ wiederherstellen könnten, doch eine weitere Eskalation der Unterdrückungsmethoden und breitere Formen des zivilen Widerstandes würden schließlich zwangsläufig den Konsens der israelischen Gesellschaft sprengen. Auch Jossi Sarid, Mitglied der Bürgerrechtspartei, spricht von einem „Volksaufstand in statu nascendi“. Er ist der Auffassung, daß Not, Frustration und die Hoffnungslosigkeit, die die israelische Regierung mit ihrer Ablehnung der Friedensinitiativen hervorruft, den Aufstand ausgelöst haben. Die Lösung der Probleme könne nur eine politische sein. Doch auch eine Mehrheit der Israelis ist derzeit nicht bereit zu akzeptieren, daß das Problem der Besatzung auf Dauer nicht allein mit Gewalt und Übermacht gelöst werden kann und zieht es vor, die Augen vor der Realität zu verschließen. Nachdem jetzt auch das amerikanische Konsulat zum Ziel von Anschlägen wurde, müssen sich die Israelis nun erstmals auch Kritik aus Washington anhören. Die Sprecherin des amerikanischen Außenministeriums, Phyllis Oakley, zeigte sich am Montag „zutiefst beunruhigt“ und appellierte an beide Seiten, „Mäßigung“ zu bewahren. Die innenpolitische Kontroverse hat in Israel bereits begonnen. Mit den Schüssen auf die Palästinenser ist zugleich der Wahlkampf zwischen den Koalitionsparteien, dem Likud–Block und der Arbeiterpartei, eröffnet worden, der parallel zum US–amerikanischen verlaufen wird. Der Likud–Block und die Arbeiterpartei tauschten „Komplimente“ wie „anti–patriotische Defaitisten“ und „Verbrecher“ (Ministerpräsident Itzhak Shamir über die Arbeiterpartei) oder politisch impotente „Saboteure des Friedens“ (Arbeiterpartei über Likud) aus. Das Thema der Zukunft der Palästinenser in den besetzten Gebieten wird fraglos im Zentrum des Wahlkampfes stehen. Somit übt die Protestbewegung gegen die Besatzung auch großen Einfluß auf die innenpolitische Entwicklung in Israel aus. Mit der Wahlkampf–Ouverture ist jedoch noch kein Licht am Ende des Tunnels für die Palästinenser in Sicht.
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