: „Eintreten, 6 Monate anschauen, austreten“
Am Mitgliederschwund der Parteien wird sich kaum etwas ändern, sagt Ingrid Reichart-Dreyer. Vor allem für Frauen sei die Mitarbeit wenig attraktiv. Den Nachwuchsorganisationen fehle das Geld für spannende Veranstaltungen
taz: Frau Reichart-Dreyer, was würden Sie einem verzweifelten Berliner Ortsverbandsvorsitzenden raten, der endlich neue Parteimitglieder gewinnen will?
Ingrid Reichart-Dreyer: Die Parteien machen potenziellen Mitgliedern einen Parteieintritt bislang nicht gerade schmackhaft. Monatliche Mitgliedertreffen beim Bier in stickigen Eckkneipen sind nicht jedermanns Sache. Vor allem Frauen sagen da: Ohne mich. Für viele Neumitglieder gilt deshalb die Regel „Eintreten, anschauen, austreten“ innerhalb von sechs Monaten. Walter Momper nannte das mal „Säuglingssterben“.
Die Parteien in Berlin müssen also weiterhin mit dem Mitgliederschwund leben?
Ich glaube schon. Noch in den 70er-Jahren, als viele Parteien regen Zulauf hatten, konnten die Mitglieder auf ihre festen Jobs vertrauen, die ihnen genug Raum für parteipolitisches Engagement ließen. Schon für die heute etwa 50-Jährigen gilt das nicht mehr. Familie, Beruf, Politik – das bringt heute kaum jemand unter einen Hut. Daran wird sich kaum etwas ändern.
Wer tritt heute trotz allem einer Partei bei?
Grob gesagt gibt es drei Gruppen: Die einen sind seit Schulzeiten politisch aktiv und haben sich über Jahre Verbindungen aufgebaut. Andere engagieren sich parteipolitisch, weil sie im regionalen Bereich etwas verändern wollen, etwa bei Kitas oder Schulen. Und die dritte Gruppe bilden Frühpensionierte und Senioren, die auf eine neue Aufgabe und Geselligkeit hoffen.
Bremsen die starren Parteistrukturen nicht jeden Eifer der Neumitglieder?
Die CDU hat einen interessanten Schritt getan, nämlich die Abschaffung des Delegiertenprinzips auf Kreisebene empfohlen. Jetzt zählt auf lokaler Ebene die einfache Mehrheit der Mitgliederstimmen. Es wird mehr diskutiert in der Partei, und die Spitze muss noch mehr auf die Basis hören.
Können die Nachwuchsorganisationen – Grüne Jugend, Junge Union & Co. – nicht dabei helfen, das Schrumpfen der Mutterparteien zu begrenzen?
Anders als etwa in Bayern fehlt dem Parteiennachwuchs in der Hauptstadt das Geld für attraktive Veranstaltungen. Politischen Stiftungen und Parteien ist das Geld ausgegangen, um Seminare und Wochenendtreffen zu unterstützen.
Fast 15 Jahre nach der Wiedervereinigung gibt es noch immer eine parteipolitische Zweiteilung Berlins. Kaum ein FDP-Mitglied verirrt sich nach Lichtenberg, und nur 26 Steglitz-ZehlendorferInnen wollen in der PDS sein. Wird sich an dieser Lage noch etwas ändern?
Die meisten Wähler bleiben bei der Parteienentscheidung, die sie im Alter zwischen 25 und 35 Jahren getroffen haben. Nur ein radikaler Wandel der Partei ändert etwas daran. Wer nur wenige Mitglieder in einem Bezirk hat, hat wenige WählerInnen – und umgekehrt. Deshalb werden wir die verschiedenen Sozialisationen im Ost- und Westteil der Stadt noch über Jahrzehnte spüren. INTERVIEW: MATTHIAS LOHRE