Einsamkeit in Küchen etc.: Brutales Berlin
Walter Matthau ist tot
Im Umland von Berlin steht ein trauriges Schild. Es warnt: „Achtung Fußgänger! Dieser Ort hat keinen Geh- und Radweg.“ Das Dorf ist leer. Das „Theater des Friedens“ ist mit Brettern zugenagelt. In anderen Gemeinden liegt merkwürdigerweise als Kunst im öffentlichen Raum ein riesiger Tacker aus Beton im Nieselregen. Das ist in Mahlsdorf. Aber auch in Berlin schreit einen oft die Verzweiflung an. Am Ostersonntag fand ich ein abgeschnittenes Stoffhasen-Ohr auf dem Gehweg. Ganze Straßenzüge riechen nach Alkohol. Das Zoogeschäft an der Ecke kämpft mit Wegwerfpreisen ums Überleben: Seit letzter Woche hängt ein anklagender Zettel im Fenster „Mäuse 3 Mark“.
Mit Nettigkeiten kommt man hier nicht weiter. 1.500 Mark Strafe muss jemand bezahlen, der einen Polizisten „Schatzi“ genannt hat. In derselben Ausgabe der B.Z. findet sich eine andere bedrückende Schlagzeile: „Mann fiel vom Barhocker – querschnittsgelähmt“. Ausgehen macht unglücklich. Das ist nichts Neues.
Trotzdem musste ich neulich auf eine schreckliche Party. Eine Party, bei der die Leute beim Tanzen Gesichter zogen. Es lief das Lenny-Kravitz-Lied aus der Autowerbung. Das Publikum sah aus wie zwanzig Doktoranden-Kolloquien. Und der DJ hätte mit Leichtigkeit Revolutionen auslösen können mit der Durchsage: „Das Nafög ist gestrichen“. Eine Bombe auf das Haus – und 70 Prozent des akademischen Nachwuchses der Stadt wären mit einem Schlag ausgelöscht. Wir gingen stattdessen auf den Alexanderplatz. Es war Jesus-Tag. 50.000 Christen sollten in der Stadt sein. Aber wir fanden keine. Mein Begleiter sagte: „Wahrscheinlich sind die alle schon in ihren Hotelzimmern und karnickeln, um in ein paar Jahren endlich die Weltherrschaft zu übernehmen“.
Manchmal könnte die Stadt freilich ein bisschen „Love Bombing“ vertragen. Das ist eine Psycho-Technik, die die Mun-Bewegung erfunden hat. Der Sekten-Neuling wird dabei mit Liebe überschüttet. Stattdessen trifft man selbst bei Imbissbudenbetreibern auf das Phänomen Einsamkeit in Küchen. Viele Touristen gehen lieber bei McDonald’s essen, weil man dort auch in Berlin mit Dollar bezahlen kann.
Kapitalistisches Leistungsdenken hat sowieso überall Einzug gehalten. Eine Affäre einer Freundin endete neulich damit, dass ihr Liebhaber sie mit „Du, ich geh jetzt Joggen. Kommste mit?“ weckte. Sie frühstückte allein mit dem Mitbewohner, der sich ihr vorstellte als „Hallo, ich arbeite bei einem 150-Mann-Betrieb.“
Vor ein paar Tagen lernte ich Scott aus Michigan im Internet kennen. Er hat eine tolle Frisur und arbeitet in einer Fabrik, die Holzleitern herstellt. Er war nett, weil er nicht die Hose auszog. Trotzdem bin ich traurig. Walter Matthau ist tot.
KIRSTEN KÜPPERS
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