piwik no script img

Einheimische mit ausländischem Paß

■ Deutschland war immer Einwanderungsland und muß es bleiben / Roland Tichys Veröffentlichung „Ausländer rein“ beschreibt, warum es in der BRD kein „Ausländerproblem“ gibt, sondern allenfalls eine problematische Ausländerpolitik

Die Bundesrepublik ist Einwanderungsland und wird es verstärkt werden. Diese Einsicht mit Roland Tichy anzuerkennen und sie in praktische Politik umzusetzen, fällt nicht nur Regierungsverantwortlichen schwer. Ins öffentliche Bewußtsein dringen begründete und konstruktive Analysen zur Situation von Ausländern in der BRD nur äußerst selten. Die Veröffentlichung von Roland Tichy leistet hierzu einen Beitrag von außerordentlichem Wert und, zur rechten Zeit: nämlich bevor die Möglichkeiten von gestaltender Politik rechts überholt werden von Demagogie und verstärkter Ausländerdiffamierung.

Ausländer rein! ist ein erfrischendes Buch, mit dem gängige Vorurteile gegenüber Ausländern demontiert werden und zugleich konstruktives Argumentationsmaterial präsentiert wird. Zwar sind inzwischen die neuen Ausländergesetze, allen Protesten ungeachtet, von den Regierungsparteien im Bundestag und den Unionsländern im Bundesrat verabschiedet worden, doch um die rigorose Anwendung dieser Gesetze abzuwenden wie auch im Falle sich ändernder politischer Konstellationen gerüstet zu sein mit klaren Konzepten einer humanen Ausländerpolitik, ist dieses Buch ein wichtiges Hilfsmittel.

Zudem ist eine fortschrittliche Entwicklung in der öffentlichen Meinungsbildung zu Fragen der Ausländersituation nur möglich mit handfesten Fakten und präziser Erläuterung von Zusammenhängen. Mit Vorurteilen und Halbwahrheiten ist bisher nicht nur eine rationale Ausländerpolitik verhindert worden, sondern Tichy attributiert der Bundesregierung eine wiederholt unsinnige und immer stärker ausländerfeindliche Politik.

Flüchtlingspolitik wird immer wieder mit Zahlenspielen betrieben. Das Innenministerium suggeriert der Öfffentlichkeit eine Belastung der BRD mit Flüchtlingen von über 800.000 Menschen. Auf dieser statistischen Grundlage wird öffentlich argumentiert und politisch agiert. Doch bereinigt man diese Zahl von Schätzungsfaktoren, Doppelzählungen und Manipulationen, dann liegt sie wohl eher unter 600.000. Bestehen schon Ungereimtheiten bei der Feststellung der tatsächlichen Zahl von Flüchtlingen, dann zeugt der Umgang mit dem Begriff selbst von immensen Unzulänglichkeiten.

Wer ist Ausländer und wer Flüchtling? Wer ordnet die zu uns kommenden Menschen ein? Unter welchen Gesichtspunkten wird über die materielle Unterstützung und die humanitäre Hilfe für die Aufnahmesuchenden entschieden? Welche Probleme treten bei der gesellschaftlichen Integration von Ausländern auf? Wie verläuft dieser Prozeß, und ist er überhaupt sinnvoll?

Es ließe sich eine lange Reihe von Fragen auflisten, auf die vernünftige Antworten zu finden viele Bundesbürger nur wenig geneigt sind. Gerade diesem Teil der Bevölkerung kann Tichys Buch auf die argumentativen Sprünge helfen. Vom Kaiserreich bis zu Schwelle der anstehenden Vereinigung der beiden deutschen Staaten zeigt Tichy auf, daß Deutschland faktisch längst ein Einwanderungsland ist, „allerdings eines, das diese Tatsache nicht wahrhaben will“ S.158).

Durch die Überzeugungsarbeit, die der Autor leistet, fällt es leicht, eine solche verdrängte und auch oft abgelehnte Tatsache dennoch zu akzeptieren und noch mehr: Ansätze zum politischen Handeln werden aufgezeigt. Begriffsklärungen und das Überarbeiten von verstockten Rechtsnormen sollten unmittelbar vorgenommen werden. Sicher richtig ist, daß die „Unterscheidung zwischen 'politischen Flüchtlingen‘, 'Armutsflüchtlingen‘, 'Umweltflüchtlingen‘ und 'Wirtschaftsflüchtlingen‘ ohnehin problematisch ist, weil politische Gewalt und Mißachtung von Menschenrechten einerseits und wirtschaftliche und soziale Probleme andererseits eng verflochten sind“ S.77).

Doch normativ anerkannt ist diese Problematik bei uns längst nicht. Der Verwaltungsvollzug der Ausländerpolitik klebt an schablonenhaften Kategorien. „Derzeit gibt es fünf Kategorien von Einheimischen: - Deutsche - Ausländer aus den EG-Mitgliedstaaten - Ausländer aus Nicht-EG-Staaten - Asylbewerber - Flüchtlinge nach der Genfer Konvention“ (S.35).

Hinzu kommt eine „fein abgestufte Hierarchie der Zugehörigkeit“ im „schwer zu druchdringenden Dschungel“ des Ausländerrechts. Bereits bei der Bestimmung, wer zur Kategorie der „Deutschen“ gehört, treten tagtäglich Unstimmigkeiten und Ungereimtheiten auf. Tichy spricht schlichtweg von einem Skandal, „daß die Bestimmung der Volkszugehörigkeit auf die bürokratischen Überreste des Nationalsozialismus zurückgreift“ (S.153). Denn über diese Volkszugehörigkeit, ist sie einmal amtlich anerkannt, läßt sich der Anspruch auf deutsche Staatsangehörigkeit ableiten. Die deutsche Staatsangehörigkeit für hier geborene und integrierte Ausländer läßt sich nur schwer erwerben; ein Anspruch läßt sich nirgendwoher ableiten.

Das Festhalten an der Kategorie „Volkszugehörigkeit“ entspringt nationalstaatlichen wie auch nationalistischen Motiven, ist jedoch als Instrument zur Regulierung von Immigrationsbewegungen mehr als untauglich. Wer wollte damit die Rückwanderung aller deutschstämmigen Menschen in den USA (weit über fünf Millionen) kontrollieren, sollten diese sich dazu entschließen wollen, in Deutschland zu leben?

Wie Begriffe vollends inhaltlich ineinanderfließen können, zeigt sich bei der Betrachtung der Begriffe „Ausländer“ und „Flüchtling“. Fehlt oder verlieren Begriffsabgrenzungen ihre Gültigkeit, kann ein an starre Kategorien gebundenes Rechtsmittel wie das Ausländergesetz schnell zu Ungerechtigkeiten führen. Verklärungen helfen wenig bei der Suche nach politikfähigen Begriffen. Aber auch eine präzisere Bestimmung zwischen Aussiedlern, Asylbewerbern und Ausländern ist vonnöten als die von Tichy vorgeschlagene, nämlich: „Nehmen wir alle die, die zu uns kommen, als das, was sie sind: Ein-Siedler, Immigranten, ob deutschen Blutes oder nicht“ (S.35).

Es wäre bereits ein bedeutender Fortschritt, wenn das deutsche Asylrecht zu der Praxis vor der sogenannten „Wende“ zurückfinden würde. Denn „eines der Hauptprobleme des bundesdeutschen Asylrechts scheint zu sein, daß die Genfer Flüchtlingskonvention zwar nach wie vor innerstaatlich verpflichtend ist, jedoch im eigentlichen Asylverfahren seit 1982 keine Anwendung mehr findet“ (S.52), so der Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen.

Tichy gelingt es, Gründe, Motive und Triebkräfte der Flucht - und Wanderungsbewegung anschaulich durch Fallbeispiele darzustellen. Hierbei werden vielfältige Ursachenkomplexe angesprochen wie Armut, politische Repression, Dürre- und Umweltkatastrophen sowie die Attraktivität westlicher Überflußgesellschaften. In seiner Analyse dieser Ursachen verkürzt und vereinfacht Tichy allerdings zu sehr, um überzeugende alternative Entwicklungswege aufzuzeigen. Lösungen für die angesprochenen Ursachen der Flucht- und Wanderungsbewegungen müssen auch die Wirtschaftsweise in Betracht ziehen, die dafür mitverantwortlich ist.

Tichys „Thesen für eine deutsche Ausländerpolitik“ sind ein überzeugendes Plädoyer dafür, daß es an der Zeit ist, sich von den Verkrampfungen, der Kleinkariertheit und den Ungerechtigkeiten konservativer Ausländerpolitik zu verabschieden. Politik, Recht und die Gesellschaft als Ganzes sollten sich auf die multikulturellen Realitäten einstellen. Aus nationalstaatlichem Denken und ethnozentrischem Gehabe werden schnell nationalistische und rassistische Positionen. Erst nach Überwindung unserer Erwartungsambivalenz zwischen totaler Integration und Ausklammern fremder kultureller Identitäten öffnet sich der Weg für ein Neben- und Miteinander aller Einheimischen, auch und insbesondere mit den Einheimischen mit ausländischem Paß.

Glenn Brigaldino

Roland Tichy: Ausländer rein! Warum es kein „Ausländerproblem“ gibt. Serie Piper Aktuell, München 1990, 176 S., DM 14,80

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen