: Einfach nur ein Spiel
■ Ein Gespräch mit Louis Malle, dessen Film „Eine Komödie im Mai“ mit Michel Piccoli und Miou-Miou auf wenig Gegenliebe stößt, weil er den Mai '68 nicht ernst nimmt.
Gerhard Midding: Monsieur Malle, wer ist „Bruno“, dem Sie Ihren Film gewidmet haben?
Louis Malle: Das ist Bruno Carette, der den Lastwagenfahrer Grimaldi spielt. „Milou en Mai“ war sein erster Film, er ist vor zwei, drei Jahren als Fernsehkomiker auf „canal Plus“ berühmt geworden. Er starb im Dezember, kurz bevor ich mit dem Schnitt des Films fertig wurde, an einem sehr mysteriösen Virus, den man uns niemals völlig erklärte. Er war sehr witzig, und es war wunderbar, mit ihm zu arbeiten.
War er mit Julien Carette verwandt, dem Schauspieler, der für Jean Renoir den Wilddieb in „La regle du jeu“ spielte?
Nein, er war einfach jemand, der vor zwei, drei Jahren aus dem Nichts auftauchte. Er wäre ein großartiger, ein brillanter Schauspieler geworden.
Ich hätte gewettet, daß sie miteinander verwandt sind: Sie sehen einander nicht nur sehr ähnlich, auch die Rollen der beiden ähneln sich.
Es ist witzig, daß Sie danach fragen, denn ich stellte ihm die gleiche Frage, als wir die Rolle besprachen. Ich gab ihm eine Cassette mit Renoirs Film: „Das könnte dich vielleicht interessieren, denn diese Figur ist ein Unruhestifter, genau wie du in meinem Film.“ Tatsächlich war er von Julien Carette begeistert: „Ein großartiger Schauspieler, ich wünschte, er wäre mein Onkel!“
Ich habe den Eindruck, daß Ihr Film voller Anspielungen auf Renoirs Vorkriegsfilme steckt. Z.B. der Transport der Tomaten, geht der auf „La Marseillaise“ zurück?
(lächelt) Ich glaube, Sie haben recht. Ich habe „La Marseillaise“ seit Jahren nicht gesehen. Natürlich habe ich ein wenig an „La regle du jeu“ gedacht, beide Filme sind Komödien und die Beschreibung eines bestimmten sozialen Milieus. Obwohl es bei Renoir ein anderes ist: Sein Film beschäftigt sich mit einer bestimmten Art von Aristokratie kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Ich hege so viel Respekt und Bewunderung für Renoir, ich würde es nicht wagen, meinen Film mit „La regle du jeu“ zu vergleichen. Sagen wir, ich verstehe meinen Film als eine Art Hommage.
Ihre Filmographie läßt sich unschwer nach Provinz- und nach Großstadtfilmen aufschlüsseln. Weshalb zeichnen Sie immer ein so düsteres Bild von Paris?
Die Filme, an die Sie denken, sind frühe Filme. Die habe ich gedreht, als ich Pariser war und, um ehrlich zu sein, kein besonders glücklicher. Ich verbrachte den größten Teil meiner Kindheit und Jugend, auch meine ersten Jahre als Filmemacher in Paris. Diese urbanen Filme waren sicher düsterer und pessimistischer als meine anderen Filme.
Vielleicht, weil ich mich immer als ein Provinzfranzose gefühlt habe. Meine Wurzeln, oder besser: Die Wurzeln, die ich für mich entdeckt und erfunden habe, lagen immer südlich der Loire. Dort gibt es eine ganz andere Kultur. Als ich in die Gegend zog, in der wir „Eine Komödie im Mai“ drehten mein Landhaus liegt etwa eine Stunde vom Drehort entfernt -, hatte ich sofort das Gefühl, es sei der Landstrich, in dem ich leben möchte. Nun verbringe ich mein Leben zu einem großen Teil in New York und in einem kleinen Dorf in der Dordogne, das ist das Frankreich, in dem ich mich wohl fühle.
Haben Sie eine Erklärung dafür, daß alle Ihre französischen Filme - „Eine Komödie im Mai“ bildet da keine Ausnahme seit „Das Irrlicht“ („Le feu follet“) in der Vergangenheit spielen?
Ich weiß nicht...ich glaube, ich hatte immer schon das Gefühl, ich brauche eine gewisse Distanz. In der Fiktion, wohlgemerkt! Dokumentarfilme mache ich lieber über Dinge, die gerade geschehen. Ich gehe von Beobachtungen aus, das gilt auch für meine amerikanischen Filme. Die beschäftigen sich mit der Gegenwart, weil ich keine Vergangenheit in den USA habe.
Ich arbeite nicht gern an einem Thema, das mir zu nahe ist, für mich bedeutet Fiktion immer Reflektion. Auch bei meiner Rückkehr nach Frankreich habe ich die historische Distanz gewählt: „Au revoir, les enfants“ bezieht sich ganz präzis auf eine Kindheitserinnerung. Auch „Milou“ geht auf persönliche Erinnerungen zurück, die freilich auf etwas verschlungenen Wegen Eingang in den Film gefunden haben. „Milou“ hätte auch in der Gegenwart spielen können, dennoch beschäftigt er sich auch mit einem Lebensstil, der mehr oder weniger vergangen ist. Natürlich war es interessant für mich, den Film im Mai 1968 spielen zu lassen, weil sich die Charaktere auf eine Art benehmen konnten, die ungewöhnlich für sie war.
Ist etwas dran an der Geschichte, die Luis Bunuel in seiner Autobiographie erzählt: Sie hätten seinem Sohn Juan-Luis im Mai '68 ein Gewehr in die Hand gedrückt, mit dem Befehl, auf jeden Polizisten zu schießen, der sich blicken ließ?
(lacht) Nein. Ich wünschte, sie wäre wahr, weil es eine sehr witzige Geschichte ist. Ich glaube, sie wurde von Jean -Claude Carriere erfunden, der Bunuels Erinnerungen ja aufgezeichnet hat. Ich erinnere mich sehr gut an Bunuel zu jener Zeit: Er beobachtete, was da vor sich ging, und es amüsierte ihn sehr. Ich glaube nicht, daß er die Revolution vom Mai '68 sehr ernst nahm.
Damals war jeder ein bißchen verrückt. Ich denke an die Zeit zurück wie an einen Urlaub, ein ausgelassenes Fest, ein Happening. Jeder hatte seinen Spaß. Denn wir hatten entschieden, daß die Gesellschaft wieder ganz von vorn beginnen sollte. Nichts stand mehr fest, wir mußten alles neu erfinden. Aber jeder hatte im Hinterkopf, daß alles nach kurzer Zeit vorbei sein würde, und die Dinge zu ihrem normalen Lauf zurückkehren würden. Und dennoch war es eine sehr kreative, phantasievolle Zeit. Ich sehe noch diese großartigen Slogans an den Häuserwänden vor mir: „L'imagination pouvoir“ und „Il est interdit d'interdire.“
In Frankreich hat mein Film viele Leute irritiert: Sie wollten sich an den Pariser Mai '68 als an eine sehr ernste Angelegenheit erinnern. Daß ich mich darüber lustig gemacht habe, hat viele geärgert. Und ich muß zugeben, daß das von mir auch ein wenig als Provokation gedacht war. Aber das Bild der Zeit, das der Film entwirft, ist recht genau: Zum großen Teil war es einfach nur ein Spiel.
Wie war zu jener Zeit, nachdem der erste Aufbruchsenthusiasmus der nouvelle vague sich gelegt hatte, Ihr eigenes Selbstverständnis als Filmemacher? Haben Sie sich als Revolutionär gefühlt? Ihre Filme behandelten mitunter skandalöse Themen (Selbstmord, Inzest) und wagten erzählerische Experimente, freilich nicht immer beides zusammen.
„Zazie in der Metro“ beispielsweise war ein Experiment. Ich nahm Queneaus Buch, das eine Art „pastiche“ aller möglichen literarischen Ausdrucksformen war, und versuchte, dies aufs Kino zu übertragen. Es gibt ein anderes Buch von Queneau, „Exercises de style“, das war „Zazie“ als Film für mich auch. Danach drehte ich „Le feu follet“, der war sehr klassisch. Gut, als ich anfing mit „Les amants“, drehte ich sehr lange Einstellungen. Ich ging von der Idee des „camera -stylo“ aus. Ich schreibe auch heute noch mit der Kamera, aber nun möchte ich nicht mehr, daß der Zuschauer das bemerkt. Für einige Regisseure, für einigesehr gute Regisseure, wird die Kamera zu einem Protagonisten der Geschichte. Ich bin glücklich, wenn die Zuschauer vergessen, daß es eine Kamera gibt, wenn sie sich mitten im Film, mitten unter den Charakteren fühlen. Ich bemühe mich um einen Fluß der Erzählung. Der Schauspieler hat beim mir immer Vorrang, für ihn würde ich alles opfern, auch eine Kameraposition oder -bewegung, für die ich mich begeistere.
Mich hat schon immer die Wechselhaftigkeit Ihrer Filmographie fasziniert, der Impuls, einen Film gegen die Stimmung und den Tonfall des vorangegangenen zu machen.
Das gilt sicher für meine ganze Arbeit. Ich erinnere mich, daß die Dreharbeiten zu „Le feu follet“ sehr bedrückend und schwierig waren. Ich fühlte mich ungeheuer angespannt. Ich arbeitete im Grunde nur mit einem einzigen Schauspieler, mit Maurice Ronet, an einer sehr, sehr düsteren Geschichte, die in einem Selbstmord endet. Die ganze Atmosphäre war depremierend. Am Ende der Dreharbeiten, an einem Sonntagnachmittag, war ich allein und dachte über den Film nach. Dann schrieb ich plötzlich auf ein Blatt Papier: „Mein nächster Film wird eine Komödie mit lauter Frauen!„ (lacht) Daraus wurde dann „Viva Maria!“
Nach „Au revoir, les enfants“ brauchte ich einige Zeit, mich zu erholen. Das war ein persönlicher Film, ein sehr wichtiger Film für mich. Ich freute mich, daß er so gut aufgenommnen wurde, aber auch davon mußte ich mich erholen. Als ich über einen möglichen nächsten Film nachdachte, war mir augenblicklich klar: Es sollte ein fröhlicher Film sein, über die Freuden des Lebens. Das war notwendig für meine seelische Gesundheit, wie mir scheint.
War für Sie und Jean-Claude Carriere beim Schreiben des Drehbuchs „Der Kirschgarten“ ein erzählerischer Ausgangspunkt? Das sujet und auch die Figur des Milou, der dem Gaev sehr ähnlich ist, haben mich an Tschechows Dramen erinnert.
Milou wurde sicher von Gaev inspiriert. Michel Piccoli hat diese Rolle überdies auf der Bühne gespielt, in der Inszenierung von Peter Brook. Ich erinnere mich sehr genau an seine Darstellung, sie hat mich damals sehr beeindruckt. „Der Kirschgarten“ handelt vom Ende einer Familie, vom Ende eines Hauses. Natürlich mußte ich daran denken, entschied dann aber, daß Tschechow zu komplex war. Außerdem muß doch immer ein ganzes Gemisch von Gründen zusammenkommen, bis man einen Film macht. Ich habe sehr viele Kindheitserinnerungen in den Film eingebracht, beispielsweise die Todesfälle in unserer Familie. Es gab diesen seltsamen Brauch, den Verstorbenen in der Mitte des Wohnzimmers aufzubahren. Ein ziemlich bizarres Ritual, wenn man einmal darüber nachdenkt. Man mußte dann zwei Stunden dort bleiben und so tun, als würde man beten.
Ich habe einfach auch an eine Menge Leute gedacht, die ich kannte. An einen Onkel etwa, der ungemein exzentrisch war: Er lebte auf dem Land und weigerte sich strikt, nach Paris zu kommen. Die etwas merkwürdige Anfangsszene des Films Milou (Michel Piccoli) versucht, einen Bienenschwarm zu beruhigen, indem er Vergil vorliest - geht auf ihn zurück: Er sprach mit uns immer nur lateinisch. Leonce, der Partner Michel Piccolis in dieser Szene, wird übrigens von meinem Nachbarn gespielt, einem wunderbaren alten Mann. Ich habe oft erlebt, wie er mit Bienen umgeht, und so war es ganz natürlich, daß er in den Film hineingeriet. Ich sagte zu ihm: „Weiß du, du mußt eine Rolle in meinem Film übernehmen, denn niemand kann mit den Bienen so umgehen wir du.“ Er blickte etwas verstört drein, denn er hatte nie zuvor eine Kamera gesehen. (lacht) Aber er übernahm die Rolle. Er ist großartig, ich würde gern einen kleinen Dokumentarfilm über ihn machen.
Nach welchen Prinzipien sind Carriere und Sie beim Schreiben einer Komödie vorgegangen?
Sagen wir einmal, wir fingen bei Tschechow an und bewegten uns auf Feydeau zu! (lacht) Feydeau macht viel Gebrauch von Überraschungen und Zufällen, von Mißverständnissen und Verwirrungen. Das sind die Grundlagen der Feydeauschen Komödie, und das paßte für mich sehr gut zu der Situation im Mai '68. Wir konnten viele Überraschungen in den Film einbauen, denn die Figuren benahmen sich aufgrund der damaligen Situation ganz anderes, allen voran Camille (Miou -Miou), eine steife, sehr konventionelle Hausfrau aus Bordeaux, die plötzlich viel lockerer wird. So etwas konnten wir bei der Drehbucharbeit ganz systematisch machen, wir gaben jeder Situation fast aus Prinzip eine Wendung.
Das funktioniert geradezu nach einem dialektischen Dreischritt, bei dem Erwartungen geweckt, scheinbar enttäuscht und dann in gewisser Weise doch bestätigt werden.
Ja, so etwas habe ich schon immer in meinen Filmen gemacht: In einer Szene die Tonarten zu mischen, eine tragische Situation in ein Lachen aufzulösen und umgekehrt. Es gibt immer eine Art von Realität, die einer anderen zu widersprechen scheint. Darum habe ich mich auch in dramatischen Filmen wie „Lancombe Lucien“ und „Au revoir, les enfants“ bemüht, auch dort gibt es den Wechsel der Tonarten. „Eine Komödie im Mai“ aber sollte von Anfang an eine Komnödie sein, deshalb gibt es viele Momente, die gar nicht so komisch sind.
Interview: Gerhard Midding
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