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■ Einem "ganz gewöhnlichen Mord auf Bestellung" fiel am Mittwoch abend der Moskauer Fernsehjournalist Wladislaw Listjew zum Opfer. Alles deutet darauf hin, daß mächtige Figuren der Unterwelt den....Für eine Handvoll Rubel mehr

Einem „ganz gewöhnlichen Mord auf Bestellung“ fiel am Mittwoch abend der Moskauer Fernsehjournalist Wladislaw Listjew zum Opfer. Alles deutet darauf hin, daß mächtige Figuren der Unterwelt den Ostankino-Leiter haben umbringen lassen.

Für eine Handvoll Rubel mehr

„Möge unser Schweigen den Regierenden und der Gesellschaft zur Warnung dienen: ein Land, in dem kriminelle Organisationen schrankenlos walten, hat keine Zukunft.“ Dieser Spruch auf der ansonsten schwarzen Mattscheibe des ersten russischen Fernsehkanals – abwechselnd mit dem Porträt des ermordeten Fernsehmoderators Wladislaw Listjew (39) – verband gestern die meisten Wohnstuben und -küchen Rußlands in ihrer gemeinsamen Beklemmung. Auch alle übrigen Fernsehprogramme hatten zum Zeichen der Trauer darauf verzichtet, ihr Tagesprogramm auszustrahlen.

„Ein ganz gewöhnlicher Mord auf Bestellung“, lauteten die ersten offiziellen Auskünfte der Angestellten des Polizeireviers neben Listjews Wohnhaus, in dessen Treppenaufgang ihn seine Frau Albina am Mittwochabend gegen zehn Uhr mit einem Kopf- und einem Armschuß auffand. Das eigentlich Ungewöhnliche war die Reaktion der Öffentlichkeit auf den „gewöhnlichen Mord“. Gruppen verstörter BürgerInnen versammelten sich vor dem Fernsehzentrum Ostankino und vor dem „Haus der Journalisten“. Am Donnerstag versammelten sich die Chefredakteure der führenden zentralen Zeitungen und erörterten Protestmaßnahmen, vom Pressestreik bis zum Boykott bestimmter „den Journalisten unerwünschter“ Politiker.

Listjews pfiffiges Gesicht mit dem buschigen Schnurbart und hellen, intelligenten Augen hinter randloser Brille verbanden alte und junge RussInnen mit ihren spannendsten Fernseh-Erlebnissen Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre. Seine politische Magazinsendung „Wsgljad“ rutschte gegen Ende der Ära Gorbatschow wegen ihrer Brisanz und gezielten Tabubrüche auf immer spätere Sendezeiten. Er schreckte nicht vor für die damalige Sowjetgesellschaft unerhörten Themen wie „Homosexualität“ zurück, und auch nicht davor, der Korruption im Staat und in der Gesellschaft nachzuspüren.

Außer seiner Rolle im Lichte der Öffentlichkeit führte Listjew aber auch noch das Dasein eines unermüdlichen Organisators und Produzenten einer stetig wachsenden Menge neuer Fernsehserien. Seit einiger Zeit hatte er den Posten eines Generaldirektors des Öffentlich-Rechtlichen Russischen Fernsehens inne. In dieser Funktion oblag ihm die organisatorische Rekonstruktion des staatlichen Russischen Fernsehens. Obgleich auch ein politisches Motiv für den Mord nicht völlig ausgeschlossen werden kann, sind sich die meisten Kenner der Szene einig, daß ihm dies zum Verhängnis wurde. Der erste russische Kanal hatte unter seiner Ägide vorübergehend alle Reklamesendungen eingestellt, um die Fernsehwerbung grundlegend umzukrempeln. Unter anderem wollte man auf die Beiträge von Firmen mit zweifelhaften Finanzierungspraktiken verzichten und hatte bereits die Tätigkeit zahlreicher „Agenturen“ ausgeschaltet, die nur davon lebten, daß sie den Firmen Zeitanteile im Werbeprogramm des Senders vermittelten. „Irgend jemandem stehen wir im Wege“, sagte der Vorsitzende des Direktoren-Rates des Senders und einstige Gorbatschow-Berater Alexander Jakowlew. Er berichtete, daß die Einnahmen des ersten Kanals nach der Ausschaltung dieser Zwischenwirte von 5 auf 35 Mrd. Rubel pro Monat gestiegen sei. Er selbst habe im Zusammenhang mit diesen Maßnahmen anonyme Drohanrufe erhalten.

Sichtlich betroffen und ungelenk trat am Donnerstagmittag Präsident Jelzin vor den MitarbeiterInnen des Senders auf, von denen viele Tränen in den Augen hatten. Nach Worten des Beileides kam Jelzin auch auf die gesellschaftlichen Ursachen des Mordes zu sprechen. Peinlich berührt sahen sich die ZuhörerInnen an, als erhervorstieß: „Offenbar ist da auch irgend etwas im Kollektiv von Ostankino selbst, irgend etwas gibt es da!“ Dies erinnert an die Worte, mit denen man früher eine Parteisäuberung ankündigte. Der Präsident führte dann auch aus, das Schalten und Walten krimineller Organisationen sei nirgendwo in Rußland so weit gediehen wie ihn Moskau. Als unmißverständliche Drohung gegen den mächtigen Bürgermeister der Stadt äußerte er: „Angesichts des Zusammenwachsens von Behörden und kommerziellen Einrichtungen mit der Mafia drücken die Führer dieser Stadt und die Führer ihrer Rechtsorgane ein Auge zu.“ Jelzin, der auch früher schon bewiesen hat, daß er Entlassungen für das probateste Mittel hält, um gesellschaftliche Probleme zu lösen, kündete dann die Amtsenthebung des Oberstaatsanwalts und des Chefs der Generalstaatsanwaltschaft von Moskau an: „Der Verlust der Arbeit ist noch ein geringer Preis für das Leben eines Menschen.“ Letztlich forderte Jelzin ein noch härteres Durchgreifen: „Weil wir uns vor uns selbst fürchten, weil wir uns fürchten, Rußland in einen Polizeistaat zu verwandeln, haben wir Angst, den Kampf mit den Verbrecherbanden noch strenger zu führen.“ „In Usbekistan haben sie sechs Verbrechercliquen dingfest gemacht und auf der Stelle erschossen. Es waren die Organe des Innenministeriums, die sie erschossen haben. Und sofort besserte sich die Situation.“ Auch die Versicherung des Präsidenten, er wolle keineswegs einen Ausnahmezustand befürworten, konnte nicht verhindern, daß die trauernden Ostankino-MitarbeiterInnen nach dieser Rede noch verstörter auseinandergingen. Barbara Kerneck, Moskau

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