: Eine unheilvolle Phobie –betr.: „Ende eines Tabus“, „Eine Debatte ohne Schlußstrich“, taz vom 15. 12. 98
Walser möchte in einem normalen Volke usw. leben und ist doch derjenige, der mit seiner Rede die Abnormalität herbeischreit. Denn meines Erachtens hat Deutschland im Umgang mit seiner Vergangenheit längst Normalität (also ein relativ gesundes Verhältnis) entwickelt – ganz im Gegensatz zu Walser. Wie eine solche „Vergangenheitsbewältigung“ aussieht, wenn sie unnormal ist, zeigt doch der aktuelle Fall in Japan, das sich bis heute einer schriftlich fixierten Entschuldigung für die vor 1945 an China begangenen Verbrechen verweigert. [...]
Diese unsäglichen Normalitätsschreier haben in Deutschland ihre traurige Tradition. Schon zu Kaisers Zeiten wollte man in nationalen Kreisen endlich wie die anderen Völker sein. Normal sein sollte damals bedeuten, Kolonial- und Weltmacht zu sein. Zwar hatte man als Wirtschaftsmacht Nummer eins in Europa schon damals den „Platz an der Sonne“, aber das genügte wohl nicht an Normalität. Es waren gerade die Normalitätsschreier, die mit Geschichte und Gegenwart nicht normal umgehen konnten und immer noch mehr Normalität wollten.
Und als die Weimarer Republik wirtschaftlich und politisch auf dem besten Wege war, die Suppe der Normalitätsschreier (den Ersten Weltkrieg) auszulöffeln, da geiferten sie schon wieder los. Schon wieder schien ihnen Deutschland nicht normal und gleichwertig zu sein – besonders in der militärischen Rüstung.
Dieses wirklichkeitsferne Gefühl, nicht normal unter anderen Völkern zu sein, (von echten oder Meinungssoldaten) eingekreist und zu kurz gekommen zu sein, scheint deutschen Nationalisten eigen zu sein. Eine unheilvolle Phobie. Fragt sich, in welche Normalität etwa Walser Deutschland leiten möchte. Schade, daß allein Bubis sich so engagiert gegen solche Normalitätsverweigerer stellt. Sven Siebennorgen, Bochum
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