: Eine rustikale Improvisation
Nora Eckert will Richard Wagners Bühnenweihfestspiel „Parsifal“ als Spiegel der deutschtümelnden Kriegsbegeisterung des Bildungsbürgertums vor 1914 lesen. Diese These ist vielleicht nicht einmal falsch – doch Eckerts Begründungsversuch fehlen schlicht die Argumente, um ihn plausibel zu machen
VON RUDOLF WALTHER
Richard Wagners Bühnenweihfestspiel „Parsifal“, das nur Denkmalschänder eine Oper nennen, hat eine ziemlich komplizierte Entstehungsgeschichte. Der wichtigste Punkt dieser Geschichte ist, dass das Stück 30 Jahre lang nach Wagners Tod 1883 nur im Bayreuther Musentempel gespielt werden durfte, wo es bis 1933 auf dem Spielplan blieb. Die New Yorker Metropolitan Opera hielt sich schon 1903 nicht an das Aufführungsverbot, Monte Carlo und Zürich folgten zehn Jahre später. Aber auf dem alten Kontinent beachtete man die Verfügung, und so kam es, dass nach der Freigabe des Stücks zum 1. Januar 1914 in ganz Europa von Paris bis Sankt Petersburg, von Wien bis Stockholm an rund vierzig Orten Wagners „Parsifal“ inszeniert wurde.
Worum dreht sich das Bühnenweihfestspiel? Um die Gralslegende. Der Gral, eine heilige Schale, aus der Christus beim letzten Abendmahl trank und in die das Blut des Gekreuzigten floss, wird bewacht von der Gemeinschaft der Gralsritter. Das zweite Heiligtum im Tempel ist der heilige Speer. Klingsor, wegen sexueller Übergriffe aus der Gralsgemeinschaft ausgeschlossen, errichtet ein Zauberschloss, von dem aus schöne Mädchen die keuschen Ritter verführen sollen.
Der Gralskönig Amfortas erliegt den Verlockungen einer Schönen, Klingsor entwendet ihm den heiligen Speer und schlägt ihm damit eine Wunde, die sich nie mehr verschließt, bis der Retter und Erlöser dies mit dem heiligen Speer besorgt. Es ist der naive Parsifal – „durch Mitleid wissend, der reine Tor“ –, dem das gelingt, weil er im Unterschied zu König Amfortas den Verführungsversuchen der schönen Kundry widersteht. Parsifal gelangt in den Besitz des heiligen Speers, erlöst die Gralsgemeinschaft, lässt sich – wie Christus der Erlöser – von Kundry die Füße waschen und tauft sie anschließend, da er jetzt Gralskönig geworden ist. Mit dem heiligen Speer berührt er die Wunde des leidenden Amfortas, die sich sofort schließt. Kundry stirbt, befreit von ihrer Sünde.
Das Stück ist eine wilde Kompilation aus mittelalterlichen und andern Mythen, christlicher Leidens-, Mitleidens- und Erlösungsmetaphysik sowie Anleihen bei Schopenhauer, den sich Wagner freilich für seine Zwecke zurechtlegte. Parsifal wird ebenso zum arischen Christus modelliert, wie die Religion germanisiert wird. Nora Eckert nennt das zutreffend „eine national ausgerichtete Sakralisierung“. In der Vorkriegsstimmung von 1914 war das nationalistische Bildungsbürgertum durchaus empfänglich für ein „gottesdienstliches Opernerlebnis der Läuterung und der Reinheit.“
Nora Eckert setzt die „Parsifal“-Begeisterung der Deutschen in Beziehung zur Kriegspropaganda, wie sie im August 1914 vor allem von akademischen Kathedern und protestantischen Kanzeln herab betrieben wurde. Diese Parallelisierung von Parsifals Erlösungsmission und nationalistischer Kriegsverherrlichung bis hin zur geistigen Mobilmachung für den „Erziehungskrieg“ (Moeller van den Bruck) im „Geist von 1914“ ist zunächst eine Hypothese. Beiden gehe es um eine Heils- und Erlösungsutopie – im ersten durch sexuelle Entsagung, im zweiten durch Gewalt und vor allem durch „die Gewalt der Phrase“ (Theodor Haecker).
Die Parallele zwischen wagnerianischer Erlösungs- und nationalistischer Kriegsbegeisterung stichhaltig zu belegen gelingt Nora Eckert freilich nicht, weil sie sich nicht auf der Basis von präzisen Fragestellungen auf eine philologisch-hermeneutische Analyse des Materials einlässt. Sie lässt lediglich ihren „Panoramablick“ über geborgte Zitate schweifen, ohne dass deren Funktion klar würde. Über weite Passagen verkommt das Buch zu einem bloßen Namedropping, wofür die folgende Stelle repräsentativ ist: Im Abschnitt über „religiöse Sehnsucht“, die ein Scharnier sein soll zwischen Bühnenweihfestspiel und Hurrapatriotismus, kommt sie auf wenigen Zeilen von Georg Lukács, Max Weber, Siegfried Kracauer und Max Scheler auf Georg Simmel, Thomas Nipperdey, Eberhard Roters und Niklas Luhmann zu sprechen, ohne dass mehr klar würde, als dass alle Autoren irgendwann irgendetwas über Religion gesagt haben. Dieses Scharnier hält gar nichts zusammen.
Die zynische Beschwörung des Konservativen Rudolf Borchardt von Frontsoldaten, die durch Verwundung „tief verändert und still geheiligt“ worden seien, bezieht die Autorin nicht auf den Text des Bühnenweihfestspiels und die Mentalität des Publikums, sondern zitiert sie einfach her. Insgesamt bleibt der Zusammenhang zwischen bildungsbürgerlichem „Parsifal“-Kult und dem „Geist von 1914“ eine diffuse Behauptung. Die Autorin erwähnt zwar die grundlegende Studie von Kurt Flasch – „Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg“ (2000), wo von rund 13.000 Titeln zum Krieg die Rede ist. Aber welche Rolle Wagners „Parsifal“ und die Erlösungshoffnung in diesem Literaturberg spielten, bleibt im Dunkeln. Das vierbändige Standardwerk von Susanna Großmann-Vendrey über die Wagner-Rezeption 1872–1945 erscheint zwar in der Bibliografie, aber an keiner Stelle wird deutlich, was Nora Eckert der Musikwissenschaftlerin verdankt. Das ist mehr als schlechter Stil. Andere Autoren wie Joachim Kalka werden im Text zitiert, tauchen dafür in der Bibliografie nicht auf. Vieles von dem, was Eckert aus erster und zweiter Hand zitiert, hat schlicht nichts mit ihrem Thema zu tun.
Generell fehlt es dem Buch an einer sachgemäßen Gliederung und präzisen Leitfragen. Wo sich die Autorin Ausblicke erlaubt – wie den auf eine denkbare Kontinuität von 1914 bis 1933 –, verraten sie nur Mut zur Lücke. So ist die behauptete Verbindung von Hans Vaihingers „Philosophie des Als-Ob“ (1911) mit der „Ideologie, die sich ‚politische Korrektheit‘ nennt“, nichts weiter als eine rustikale Improvisation.
Nora Eckert: „Parsifal 1914. Über Heilsbringer, Volkes Wille und die Theologisierung des Krieges“. EVA, Hamburg 2003, 270 Seiten, 22 €