: Eine notwendige Unterrichtung zur Berliner Wertekunde
Der SPD-Parteitag hat die Einführung eines verpflichtenden Wertefachs für alle Kinder beschlossen. Was steht der Stadt jetzt bevor? Die taz gibt Antworten auf zehn Fragen zum neuen Unterrichtsfach
VON SABINE AM ORDE
Was ist jetzt der nächste Schritt nach dem Beschluss, Werteunterricht einzuführen?
Die Bildungsverwaltung prüft derzeit, ob für die Einführung des neuen Fachs eine Änderung des Schulgesetzes nötig ist. Wenn dies so ist, soll umgehend ein Gesetzentwurf ins Abgeordnetenhaus eingebracht werden. Weil SPD, PDS und Grüne für das neue Fach sind, gilt eine parlamentarische Mehrheit als sicher.
Ebenfalls sehr schnell will Bildungssenator Klaus Böger (SPD) eine Kommission einsetzen, die Lehrpläne für das neue Fach erarbeiten soll. Die Einladungen dazu sollen noch in diesem Monat rausgehen. Beteiligt werden sollen neben den Fachleuten der Verwaltung auch die Kirchen, der Humanistische Verband und die Wissenschaft. Erst wenn das Curriculum steht, könnte die Fortbildung der LehrerInnen beginnen.
Wie soll das neue Fach heißen?
Darüber müssen sich SPD und PDS noch einigen. Während die Sozialdemokraten einen Namen wie Ethik/Philosophie/Religionskunde bevorzugen, hat die PDS „Interkulturelle Bildung“ vorgeschlagen.
Was genau soll unterrichtet werden?
Auch das steht noch nicht fest. Die Lehrpläne müssen erst noch erarbeitet werden. Klar aber ist, dass grundsätzliche Werte wie Toleranz, Demokratie und die Gleichberechtigung von Mann und Frau vermittelt werden sollen. Die SchülerInnen sollen die Weltreligionen kennen lernen und philosophische Fragen erläutern.
Ab wann soll das neue Unterrichtsfach beginnen?
Im Schuljahr 2006/2007 soll das Fach erstmals in den Klassen 7 unterrichtet werden und dann in die weiterführenden Schulen hineinwachsen. Im Jahr darauf bekommen also die Klassen 7 und 8 Werteunterricht und so weiter, bis das neue Fach die zehnte Klasse erreicht hat.
An den Hauptschulen soll das Fach wahrscheinlich zwei Wochenstunden umfassen, an den anderen weiterführenden Schulen wird es vielleicht nur eine sein. Denn durch die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur wird der Stundenplan in der Mittelstufe sowieso voller.
An den Grundschulen wird erst mal alles beim Alten bleiben. Das heißt: Es gibt weiter freiwilligen Unterricht der Religionsgemeinschaften und der Humanistischen Union in den Klassen 1 bis 6 – und sonst nichts.
Wer wird es unterrichten?
Nach Schätzung der GEW sind allein für die Einführung des Werteunterrrichts in den siebten Klassen 86 LehrerInnen notwendig, die ausschließlich dieses Fach geben. Wahrscheinlich aber werden viel mehr LehrerInnen gebraucht, die dann das neue Wertefach neben anderen Fächern unterrichten. Geeignet dafür sind nach Angaben der Bildungsverwaltung besonders die PädagogInnen, die bereits an dem Schulversuch „Ethik/Philosphie“ beteiligt waren (siehe unten).
Aber auch Sozialkunde- und PhilosophielehrerInnen könnten eingesetzt werden. Unklar ist noch, ob sie dann fortgebildet werden müssen. Auch wie lange eine solche Fortbildung dauern würde, konnte die Verwaltung gestern noch nicht sagen. Zukünftig aber, sagt die SPD-Bildungsexpertin Felicitas Tesch, sollen die LehrerInnen an einer Berliner Universität studieren. Dazu müsste ein neuer Lehrstuhl eingerichtet werden.
Gibt es bereits Erfahrungen mit dem neuen Fach?
Ja, wenn auch nicht genau in der Themenzusammenstellung, die das neue Fach umfassen wird. In Berlin gibt es bereits seit 1994 einen Schulversuch „Ethik/Philosophie“, an dem 4.800 SchülerInnen in 35 weiterführende Schulen teilnehmen. Sie werden von insgesamt 120 LehrerInnen unterrichtet. Zahlreiche weitere Schulen hatten Interesse angemeldet, konnten aber aus finanziellen Gründen nicht mehr an dem Modellversuch teilnehmen.
Die Freie Universität hat den Versuch wissenschaftlich begleitet und ein sehr positives Fazit gezogen. Außerdem kann sich Berlin natürlich am Nachbarland Brandenburg orientieren, das „Lebensgestaltung/Ethik/Religion“ (LER) bereits 1996 schrittweise als Wahlpflichtfach für die Klassen 7 bis 10 eingeführt hat.
Die CDU hat angekündigt, vor dem Landesverfassungsgericht gegen das neue Fach zu klagen. Wie sind die Erfolgsaussichten?
Schlecht. Das hat der Bildungsexperte der CDU, Gerhard Schmid, inzwischen sogar selbst eingeräumt. Zahlreiche juristische Gutachter sind der Ansicht, dass Berlin – wegen der Bremer Klausel im Grundgesetz – sowohl ein verpflichtendes Wertefach als auch ein Wahlpflichtfach (Werteunterricht oder Religion) einführen kann. Dazu gehört auch der Verfassungsrechtler Bernhard Schlink von der Humboldt-Universität, der die Bildungsverwaltung berät. Er meint, das Grundgesetz zwinge Berlin nicht zu einem Wahlpflichtmodell.
Was passiert mit dem Religionsunterricht?
Den Religionsunterricht wird es weiter geben, auch bei den Zuschüssen wird nicht gekürzt. Allerdings befürchten die Kirchen, dass weniger SchülerInnen am Religionsunterricht teilnehmen, wenn es das verpflichtende Wertefach gibt. Dadurch würde die Schwierigkeiten erhöht, genügend SchülerInnen für den Religionsunterricht zusammenzubekommen.
In der Grundschule werden erst Gruppen ab 15, in der Oberschule ab 12 SchülerInnen kostendeckend finanziell gefördert. Sind die Gruppen kleiner, zahlen die Religionsgemeinschaften drauf. Zudem befürchten die Kirchen, dass der Religionsunterricht zunehmend in unattraktive Randstunden abgedrängt wird. An den weiterführenden Schulen der Stadt nimmt derzeit ein Viertel aller SchülerInnen der Jahrgangsstufen 7 bis 10 – rund 32.000 – an dem freiwilligen Angebot der Glaubensgemeinschaften, des Humanistischen Verbandes oder des Modellversuchs Ethik/Philosophie teil. 21.500 SchülerInnen besuchen den evangelischen, 4.500 den katholischen Religionsunterricht.
Ermöglicht das neue Fach, die umstrittene Islamische Föderation aus den Schulen zu verbannen?
Nein, das Fach hat darauf keine Auswirkungen. Die Islamische Föderation erteilt bislang nur an den Grundschulen islamischen Religionsunterricht. An den Grundschulen ändert sich aber nichts.
Macht das neue Fach Sinn?
Ja. In einer multikulturellen und multireligiösen Stadt, in der zunehmend vor der Entstehung von Parallelgesellschaften gewarnt wird, macht es Sinn, wenn alle SchülerInnen gemeinsam über Demokratie und Toleranz, über Religionen und Menschenrechte lernen. Sie können sich untereinander austauschen, die eigene Position in Frage stellen und lernen, dass die Welt vielfältiger ist, als sie bislang vielleicht vermutet haben.
Hinzu kommt, dass in einer Stadt, in der ein großer Teil der Bevölkerung nicht religiös ist, die Religionsgemeinschaften bei der Wertevermittlung höchstens eine Zusatzfunktion übernehmen können. Allerdings sehen das nicht alle so: Kirchen, CDU und FDP, der Landeselternausschuss und selbst SPD-Bundesprominenz wie Gerhard Schröder, Franz Müntefering und Wolfgang Thierse lehnen das neue Wertefach ab.