: „Eine moderne Form des Kessels“
■ Anwälte klagen gegen Festnahmen am 2. und 3. Oktober / Vorwurf: Polizeirecht mißbraucht
Mit der Durchsuchung des Sielwallhauses am 2. Oktober und dem Demonstrationsverbot am „Tag der deutschen Einheit“ werden sich die Gerichte beschäftigen müssen. Armin Stucke, Rechtsanwalt der im Sielwallhaus in Gewahrsam Genommenen kündigte gestern an, daß gegen an der Aktion beteiligte Polizisten Strafanzeige wegen Körperverletzung gestellt wird.
Den Vereinsvorsitzenden der Sielwallinitiative, Karl-Heinz Kunde, nahmen die SEKler bei der Razzia aus dem Büro heraus mit. „Die haben mir erstmal die Keule vor die Stirn geknallt und mich dann auf den Boden geschmissen und gefesselt. Als ich nach dem Grund fragte, brüllte mich einer an, ich soll die Schnauze halten, ein anderer trat mir mit dem Stiefel ins Genick“, erzählt er.
Am Nachmittag des 2. Oktober hatten vermummte Polizisten und Beamte des Sondereinsatzkommandos (SEK) den Jugendtreff Sielwallhaus gestürmt. Nach Augenzeugenberichten und Fotos gingen die Polizisten mit den dort versammelten Menschen und dem Interieur äußerst rüde um. Sie rissen Telefonkabel aus der Wand, brachen Türen auf und zerschlugen Scheiben. Insgesamt 74 Menschen karrte die Polizei nach Oslebshausen und hielt sie dort ohne Nennung von Gründen fest. Bis auf drei Männer und eine Frau entließ sie alle noch am gleichen Tag.
Stucke will vom Verwaltungsgericht prüfen lassen, ob die Ingewahrsamnahme rechtmäßig war. „Das ist die modernere Form des Polizeikessels“, sagt Stucke. Jetzt sperre die Polizei unbequeme Leute gleich nach Oslebshausen. Er sei zudem vom Einsatzleiter daran gehindert worden, seine MandantInnen im Gefängnis zu sehen. „Das war Geheimbereich, niemand wußte was da drin passierte“.
Die vier nicht Entlassenen wurden für die Nacht ins Polizeigefängnis an der Ostertorwache gesperrt. Erst am Mittag des nächsten Tages wurden sie einem Richter vorgeführt. Da sie nach Polizeirecht festgehalten wurden, mußte die Polizei dies begründen, nicht etwa ein Staatsanwalt. Die Begründung „war ein Patchwork von Informationen aus dem gesamten Bundesgebiet“, sagt Stucke. Sämtliche in Deutschland gefundenen Veröffentlichungen über Gegenaktivitäten zum „Tag der deutschen Einheit“ seien aufgelistet, selbst der Anschlag auf das FDP-Büro vom 26. September sei den Vieren angelastet worden. In jeweils einem Satz habe die Kripo die Einzelfälle begründet: Zwei wurden in Verbindung mit dem ebenfalls gestürmten BBA-Laden gebracht, eine Frau sympatisiere mit der RAF, der Vierte sei „Rädelsführer“ der Aktionen gegen den 3. Oktober.
Den Ausdruck „Rädelsführer“ kenne das Bremer Polizeirecht gar nicht, meint Anwalt Stucke. Zudem sieht das Polizeirecht vor, daß von in Gewahrsam Genommenen eine konkrete Gefahr ausgehen muß. Das konnte nicht nachgewiesen werden. Auch für die Durchsuchung des Sielwallhauses wurde das Polizeirecht bemüht. Wenn die Polizei den Verdacht auf eine Straftat hat, kann sie ohne richterlichen Beschluß unter Angaben von Gründen ein Durchsuchung durchführen. Das Protokoll der Razzia gebe jedoch keinen Grund an, sagt Stucke. Polizeipräsident Lüken hatte am 4. Oktober den Einsatz nachträglich legitimiert: „Das Haus sollte kommunikationsunfähig gemacht werden“. Deshalb wurden alle Telefon- und Faxgeräte beschlagnahmt, zudem mehrere Scanner. Mit solchen Funkgeräten kann der Polizeifunk abgehört und gestört werden. Die Liste der beschlagnahmten und zurückgegebenen Gegenstände weise diese Geräte jedoch nicht auf, sagt Stucke. fok
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen