■ Eine Tagung der Universität Siegen: Von Weimar über Bonn nach Berlin?: Der Umweg um die Weimar-Falle
Siegen (taz) – Will man einer Umfrage aus jüngster Zeit glauben, so figuriert die Universität Siegen in der BRD an erster Stelle der studentischen Beliebtheits- Skala. „Kein Wunder“, höhnte Niklas Luhmann, Soziologe und in der Region bis zur nahen hessischen Grenze gottgleich verehrt, „was bleibt den Studenten angesichts der Stadt Siegen schon anderes übrig, als ihre Universität zu lieben.“ Hier nun, gleich oberhalb der Mensa residiert das Graduierten-Kolleg, eine kleine Denkfabrik, die in regelmäßigen Abständen Professoren und Experten zusammenruft, zur Belehrung oder Belustigung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Wären die Organisatoren dieser Kolloquien auf der Themen-Konjunkturwelle geschwommen, hätte es zweifellos eine Tagung über „nationale Identität“ gegeben, und kein Hahn auf dem Siegerwald hätte danach gekräht. Statt dessen haben die jungen Gelehrten mit „Faszination Weimar“ ein Terrain abgemessen, auf dem Historiker sich ebenso guten Gewissens ausbreiten können wie an Grundfragen der Methode Interessierte und das dennoch unter der Rubrik „Bonn ist nicht Weimar (oder vielleicht doch)“ sich ans aktuelle Bewußtsein der debattierenden Klasse anschließt. Zwei Problemkomplexe überkreuzten sich bzw. warfen Licht aufeinander: Können wir vergleichend aus der Geschichte lernen, und was bedeutet eigentlich der Antagonismus Normalität versus Anomalität? Überraschenderweise wirkte es sich fruchtbar aus, daß die geladenen Philosophen und Soziologen wenig von Weimar, die Historiker und Journalisten hingegen fast nichts von Philosophie verstanden.
Angelo Bolaffi (Rom) sang ein Hohelied auf die Weimarer Demokratie. Bis jetzt hätten wir Weimar nur unter dem Gesichtspunkt des Scheiterns gesehen, als Zwischenspiel, als Menetekel für uns selbst. Für Bolaffi ist Weimar ein Labor der Massengesellschaft. Im Rückgriff auf die Positionen des sozialdemokratischen Theoretikers Hilferding aus dem Jahr 1927 entwickelte Bolaffi das Problem der Integration der Massen in den demokratischen Staat und bescheinigte dem Theoretiker des „organisierten Kapitalismus“, ein Pionier modernen Partei-Staatsdenkens gewesen zu sein.
Weimarer Demokraten: Avantgardisten
Bolaffi hob die Funktion des Kompromisses hervor, des versuchten Ausgleichs entgegengesetzter Interessen und Weltanschauungen. Gerade darin sei Weimar avantgardistisch gewesen. Angesichts der neuesten Redensarten über die neue Rolle des vereinten Deutschland wäre es nicht übel, sich der weltbürgerlichen Orientierung der demokratischen Politiker Weimars zu versichern.
Dietmar Schirmer (Washington) untersuchte die semantische Bedeutung des Begriffspaars „Bonn ist nicht Weimar“ und „Weimarer Verhältnisse“. Bonn wird dabei im herrschenden Diskurs auf Weimar projiziert, Bonn und Weimar als Symbolisierung von Normalität versus Pathologie verkauft. Dem zeitlichen Vergleich Bonn-Weimar entspricht das räumliche Schema Rechts-Mitte-Links. Aber Bonn/Mitte steht nicht für die „Normalität“ eines jetzt im Vergleich zu Weimar breiteren demokratischen Konsenses, sondern funktioniert im Rahmen eines Ausgrenzungsschemas. Gäbe es diese Beschlagnahmung von Weimar nicht, der Bonner Begriff der „Mitte“ hätte seinen Siegeszug so nicht antreten können. Jetzt aber sei Bonn-Weimar durch „Berlin“ erweitert und das bewährte Normalitätsdispositiv in Frage gestellt.
Weimarer Verhältnisse – gibt's die wieder?
„Das normalisierte Individuum verhält sich vampirisch zur Realität, die es zu retten gilt.“ So Jürgen Link, Karl Kraus zitierend. Der Professor (Dortmund) betreibt die dortige Diskurswerkstatt und ist Herausgeber der Zeitschrift KultuRRevolution. Er ist der Theoretiker des „Normalismus“ und der „Normalisierung“, verstanden nicht als Beschwörung symbolischer Normalität („Wir sind wieder eine normale Nation“), sondern als operativer Vorgang, als Normung. Im Vergleich der Medienkritik von Karl Kraus angesichts der Berichterstattung über den Untergang der Titanic zum Medienprotokoll in Rainald Goetz' „Die Festung“ entwickelt Link den „Fortschritt“ von Normalisierungsprozessen in den Massenmedien. Für Link gibt es heute keine Realität und kein reales Individuum mehr zu retten. Der Vergleich mit „Weimarer Verhältnissen“ ist ausgeschlossen, weil sich mittlerweile ein neuer Subjektivitätstypus herausgebildet hat, eben der normalisierte Mensch, der sein Leben nach Kurven ausrichtet, nach den Fixpunkten, die ihm versichern, daß er „normal“ sei.
Sowenig Links scharfsinnige Thesen auf ungeteilten Beifall stießen, so sehr waren sie geeignet, allzu leichtfertige Parallelen Weimar-Bonn in Frage zu stellen. Im letzten, der aktuellen Lage gewidmeten Abschnitt des Kolloquiums wollte denn auch der französische Philosoph Raulet (Rennes) den historischen Vergleich zwar ausdrücklich retten, verbat sich aber jede Schlußfolgerung. Das focht den Historiker Hans Mommsen (Bochum) nicht an. Wer sich Analogien und Schlüssen auf die Gegenwart verschließe, amputiere geradezu die Geschichtswissenschaft. Die Pointe seines Vortrags bestand weniger in der „Rettung“ Weimars als in einer Entmystifizierung der Bonner Errungenschaften. Für ihn liegt das Jahr 1993 parallel zum Zeitraum der Weimarer Bürgerblockregierungen, wobei er als Fluchtpunkt den Ruin des Parteiensystems 1930 begreift. Eine gewitzte Graduierte faßte zusammen: Vergleichen macht Spaß, aber muß es auf der Zeitachse sein, die uns schnurgerade zum 30.1. 1933 führt? Christian Semler
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