■ Der diskriminierende Paragraph 175 geht, der Paragraph 182 kommt: Eine Schmach verschwindet
„Gegen den Homosexuellenparagraphen“, so Theodor W. Adorno 1963, „ist eigentlich nicht zu argumentieren, sondern nur an die Schmach zu erinnern.“ Die Abschaffung des § 175 durch den Deutschen Bundestag ist ein politischer Erfolg. Endlich ist Gleichheit für Homosexuelle und Heterosexuelle erreicht – zumindest auf dem Papier des StGB. Die „Herrschaft des Paragraphen“, gegen den schon die Vorkämpfer der Schwulenemanzipation in Deutschland, Karl Heinrich Ulrichs († 1895) und Magnus Hirschfeld († 1935), angetreten waren, ist endlich gebrochen. 122 Jahre stand er für eine staatlich verordnete Diskriminierung der (männlichen) Homosexuellen. Ein historisches Ereignis also? Nur bedingt, denn politische Vernunft kam nur in ihrer parteipolitischen Ausprägung zum Zuge: die ersatzlose Streichung der Sonderbestimmung war politisch nicht durchsetzbar. In dem mehr als dreijährigen Ringen um eine „geschlechtsneutrale einheitliche Jugendschutzvorschrift“ ist darüber nie ernsthaft diskutiert worden.
Der neue Paragraph 182 („Sexueller Mißbrauch von Jugendlichen“) trägt mit seiner kaum nachvollziehbaren Kasuistik alle Anzeichen eines Parteienkompromisses, die Argumente der Sachverständigen blieben weitgehend ungehört. In der Endphase der Diskussion wurde die Strafandrohung noch teilweise von drei auf fünf Jahre angehoben, und die CDU/ CSU drohte sogar, die Reform scheitern zu lassen. Der mühsam gefundene Kompromiß wurde schon 24 Stunden später Gesetz – als wollte man weiterer Kritik zuvorkommen. Mit der neuen Vorschrift ist vor allem ein neues Spielfeld für Juristen eröffnet. Ohne Grund wird am Ende des 20. Jahrhunderts das sogenannte Schutzalter praktisch von bisher 14 auf 16 Jahre angehoben, steht doch jeder sexuelle Kontakt zwischen einem Jugendlichen unter 16 Jahren und einem Erwachsenen künftig erst einmal unter Verdacht – nicht mehr nur bei homosexuellen Handlungen (in die jetzt auch die Lesben einbezogen sind), sondern auch bei heterosexuellen Handlungen. Denn der neue Paragraph ist in seinem Hauptteil – wie der alte § 175 – ls Offizialdelikt und nicht als Antragsdelikt formuliert, das heißt, die Behörden sind gezwungen zu ermitteln. Die Absehensklausel („wenn das Unrecht ... gering ist“) hilft da nicht viel: sie kann nur Schaden begrenzen, der bereits eingetreten ist. Der neue Paragraph ziele mit Formulierungen wie „Ausnutzung einer Zwangslage“ oder „gegen Entgelt“ vor allem auf die Kontakte zu jugendlichen Prostituierten, heißt es. Doch ein soziales Problem läßt sich nicht mit dem Strafgesetz lösen. Wolfram Setz
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