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Archiv-Artikel

Eine Sackgasse aus Akten

„Beratungsresistent“ nennt sie einer der drei Pressesprecher, die sie schon verbraucht hat

von DANIELA WEINGÄRTNER

Heute wird sie wieder einmal in Straßburg im Europaparlament in der vordersten Reihe sitzen. Wird äußerlich unbewegt die strafenden Worte der Abgeordneten zur Kenntnis nehmen: Die Mittel fließen zu langsam ab, das Buchhaltungssystem ist noch immer nicht auf dem neuesten Stand, ein Brief des obersten Finanzkontrolleurs ist aufgetaucht, der belegt, dass die Kritik der von ihr geschassten Chefbuchhalterin gerechtfertigt war.

Sie wird die Lesebrille auf die Nase schieben und mit angestrengter Stimme Sätze sagen wie: „Eine wesentliche Vereinfachung könnte erreicht werden durch den Wegfall der Unterscheidung zwischen obligatorischen und nicht obligatorischen Ausgaben.“ Die meisten Abgeordneten wird sie damit nicht erreichen, die Entlastung für das Haushaltsjahr 2001 aber doch erhalten – wer riskiert schon eine Krise der Union, nur weil die Haushaltskommissarin nicht vermitteln kann, was sie in den letzten dreieinhalb Jahren getan hat?

Als Michaele Schreyer zum ersten Mal auf dem glatten Brüsseler Parkett ausrutschte, lief die 100-Tage-Schonfrist noch. Damals, im Oktober 1999, trauten ihr Parteifreunde im Europaparlament und auch viele Brüsseler Journalisten zu, das Haushaltsressort auf Vordermann zu bringen: diesen verstaubten Laden träger Beamter, der mit schlampiger Buchhaltung und halbherziger Korruptionskontrolle den Sturz der Vorgängerkommission Jacques Santers mit verursacht hatte.

Im September hatte Schreyer im Europaparlament den Fragen der alten Männer von CDU und CSU standgehalten, die ihre Unfähigkeit demonstrieren wollten. Das erzwungene Lächeln, die eingezwängte Stimme wurden damals als Neulingslampenfieber interpretiert und steigerten eher ihren Sympathiewert. Der Erfolg, mit dem sie die Grillprozedur überstand, war auch aus der Überraschung geboren: Guckt mal an, ’ne grüne Frau aus der politischen Provinz, die rechnen kann!

Vier Wochen später tappte sie in die Fotofalle: Bei der Einweihung des neuen Stern-Büros in Brüssel streckte ihr Paul van Buitenen entschlossen die Hand hin – ein EU-Beamter, dessen offen geäußerte Kritik an Misswirtschaft in der Kommission den Niedergang der Mannschaft um Jacques Santer eingeläutet hatte. Schreyer wich entsetzt zurück, als solle sie den Teufel persönlich begrüßen. Ein Blitzlichtgewitter der Fotografen fing die Schrecksekunde ein.

Damals richtete sich die Kritik derer, die die Szene beobachtet hatten, gegen den Gastgeber. Der Stern hatte die Unerfahrenheit der neuen Kommissarin ausnutzen wollen – kein Wunder, dass sie instinktiv abwehrte, bevor sie van Buitenen dann doch die Hand gab. Schon an diesem Abend im Oktober 1999 hätte Schreyer lernen können, wie im multinationalen Umfeld das Urteil über einen Politiker entsteht. Die Materie, mit der die meisten Eurokraten zu tun haben, ist extrem schwer vermittelbar. In den seltensten Fällen steht die Muttersprache als Brücke zur Verfügung. Auf dem Boden von Unkenntnis und Vorurteil gedeihen Spott und Intrige.

Wer hier überleben will, muss stumme Signale benutzen: ein herzliches Lächeln, ausdrucksstarke Gebärden oder ein raumfüllendes, machtbewusstes Auftreten.

Als Schreyer an einem Mittwochmorgen im März den Sitzungssaal der Kommission betritt, bedenkt sie ihre Kollegen mit dem denkbar knappsten Kopfnicken und strebt dann ihrem Platz zu – keine Zeit für Small Talk. Sie baut eine Festung aus Aktenstapeln um sich auf und fängt sofort zu lesen an.

Wie die Müllerstochter im Märchen, die jede Nacht Stroh zu Gold spinnt und doch den König nicht zufrieden stellt, nimmt Schreyer abends Körbe voll Akten mit nach Hause und spinnt daraus über Nacht Vorlagen, Entwürfe und Rechenschaftsberichte. Aber so viel sie auch lesen mag, sosehr sie sich müht, jeden Tag größere Kapitel des komplizierten Zahlengeflechts zu bändigen, aus dem der EU-Haushalt besteht – Anerkennung verschafft sie sich damit nicht.

Das mag daran liegen, dass Neil Kinnock, der dem Volk die Kommissionsreform so gut verkauft, nicht an den Charme von Zahlen glaubt. Der britische Kommissar setzt auf Anekdoten und griffige Sprüche, statt seine Zuhörer mit Details zu langweilen. Schreyers Art ist ihm im Weg, wenn er wortreich und inhaltsarm das Bild einer modernen, effektiven EU-Verwaltung zeichnen will. Wenn sie im Europaparlament neben ihm sitzt, scheint er körperlich zu leiden, wenn Details des Rechnungswesens auf ihn niederprasseln.

Auch die Chefs der anderen Ressorts gehen auf Distanz zu der 51 Jahre alten Deutschen. Zahlreiche Turbulenzen um das Personal haben ihr den Ruf eingebracht, sie ertrage keine selbstbewussten Mitarbeiter. Das Disziplinarverfahren gegen ihre frühere Chefbuchhalterin Martha Andreasen, die sie gegen den Rat des zuständigen Generaldirektors einstellte und vier Monate später mit Hausverbot belegte, läuft noch.

Der Verbrauch an Pressesprechern ist hoch. Dreimal in ebenso vielen Jahren kam sie zu dem Schluss, sie werde nicht ordentlich verkauft. Hinter dem spröden Auftreten, der knappen, geschäftsmäßigen Art, mit der sie persönliche Fragen umgeht, verbirgt sich ein Mensch, der gern gut ankommen würde. Da sie wohl selbst spürte, dass es ihr nicht gelingt, das Image einer kompetenten, souveränen, politisch engagierten Haushaltsexpertin zu vermitteln, suchte sie sich zuletzt einen Fachmann vom Fernsehen.

Joachim Groß musste mit mehreren Bittgängen bei Kommissionspräsident Romano Prodi durchgedrückt werden, denn seine Berufung verstieß gegen den Grundsatz, dass Kommissare und ihre Sprecher möglichst nicht dieselbe Nationalität haben sollen. Romano Prodi ahnte wohl, dass das Problem auch durch einen Direktimport aus Berlin nicht behoben werden würde, nachdem sie zwei kompetente Vorgänger in die Wüste geschickt hatte.

Die Journalistenmeute in Brüssel, geschädigt durch Schreyers nächtliche Beschwerdeanrufe nach kritischen Artikeln und nach manch einem in letzter Minute umgedichteten Interview schadenfroh geworden, gab Groß maximal ein Jahr. Er blieb knapp unter der Prognose und wartet seit Dezember darauf, dass die Kommission einen neuen Arbeitsplatz für ihn findet. Schreyer hat nun einen Freund mehr in Brüssel, der seine exzellenten Kontakte zu Funk und Fernsehen nutzen kann, um seinen Ruf zu retten – was ihrem Image nicht gerade gut bekommt.

Sie nimmt abends Körbe voll Akten mit und spinnt daraus über Nacht Vorlagen, Entwürfe und Berichte

„Beratungsresistent“ nennt Joachim Groß die Frau Kommissarin und deshalb „schwer unterzubringen“ bei Christiansen und Illner, wo sie gern einmal säße und über ihr Brüsseler Reformwerk berichten würde. Dass ein Kameratraining hierfür hilfreich wäre und auch rhetorische Schulung nicht schaden könnte – denn nichts ist so schwer wie einfache Sätze –, will sie nicht einsehen. „In dem Sinne, dass weniger Geld für traditionelle Infrastrukturprojekte und mehr für Humankapital und die Vernetzung von regionalen Wirtschaftspotenzialen ausgegeben wird. Das Ziel einer wissensbasierten Gesellschaft sollte in Zukunft für die Strukturfonds generell eine größere Rolle spielen“ – so warb sie vor kurzem im Berliner Tagesspiegel um Bürgernähe, als Antwort auf die Frage, wie EU-Mittel in Ostdeutschland wirksamer eingesetzt werden könnten.

Michaele Schreyers Brüsseler Zeit ist zu zwei Dritteln um. Der Versuch, durch außergewöhnlichen Arbeitseinsatz mehr Anerkennung zu erringen, ist fehlgeschlagen. Dass die EU-Erweiterung im öffentlichen Bewusstsein vor allem mit ihrem Landsmann Günter Verheugen in Verbindung gebracht wird, nagt an ihr. Dass niemand auf die Idee kommt, das Finanzkapitel im Reformvorschlag der Kommission ihr zuzuschreiben, kränkt sie. Der mädchenhafte Charme, mit dem sie als Berliner Umweltsenatorin scharfe Kritik garnierte und mit dem ihre griechische Kollegin Anna Diamantopoulou punktet, kommt nicht mehr an.

Dass sie im Gespräch den Vorhang aus Tüchtigkeit, Askese und Arbeitsdisziplin nicht einen Zentimeter lüftet, macht es nicht besser. Persönliche Fragen sollen an technischen, oft sperrig formulierten Antworten abprallen. Fragt man Schreyer, welche Fähigkeiten von früher sie bei dem Brüsseler Job am besten brauchen könne, lautet die verblüffende Antwort: Verhandlungsgeschick. Und was würde sie gern zusätzlich lernen? Ihr fällt nichts ein. Ist die dürftige Sprachausbildung eines Kölner naturwissenschaftlichen Gymnasiums der Sechzigerjahre nicht ein Handikap im Brüsseler Geschäft?

„Der Dolmetscher ist niemand, den ich als fremde, zusätzliche Person wahrnehme. Wenn mehrere Amtssprachen zugelassen sind, mache ich es mir ein bisschen zum Prinzip, deutsch zu sprechen. Wenn man aber eine bestimmte Botschaft rüberbringen will, ist es besser, das Englische zu benutzen, weil die Aussage direkter wird. Deshalb habe ich bei der letzten Debatte im Haushaltsausschuss mein Statement auf Englisch gehalten.“ Sie hat kein Problem.

In den seltenen Fällen, in denen sie ein kurioser Sachverhalt zum Lachen bringt, bleibt die Ironie den anderen verborgen. Dass ihre Exbuchhalterin Martha Andreasen nun von den Globalisierungskritikern von Attac als Ikone des Widerstands gegen Brüsseler Misswirtschaft aufgebaut wird, findet sie „verblüffend“. „Als ich das hörte, da dachte ich mir, na gut, Attac tritt jetzt ein für ein Rechnungslegungssystem, das von der Weltbank und vom IWF gefördert wird.“

Ein Gedanke, der sich zum Gegenangriff ausbauen ließe und geeignet wäre, Neidern und Kritikern ein bisschen Wind aus den Segeln zu nehmen. Sie könnte sich ein paar griffige Sätze aus dem klugen Argument schnitzen lassen, inklusive Gebrauchsanweisung, wie sie es anstellen muss, dass sie den richtigen Leuten zu Ohren kommen. Es wäre so einfach.