: Eine Republik für alle
In den französischen Vorstädten herrschen miserable soziale Zustände. Verbessern kann sie nur eine soziale Bewegung, die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ernst nimmt
Knapp zwei Jahre vor den nächsten Präsidentschaftswahlen ist die Verwandlung der französischen Vorstädte in Wahlkampfgebiete bereits in vollem Gang. Das ist nicht nur für die dort lebende Bevölkerung gefährlich, sondern für die ganze Gesellschaft, die sich ernsthafte Fragen über die Zukunft ihres dahinsiechenden Sozialvertrages stellen muss. Trotzdem scheint der französische Innenminister unter der Verantwortung von Staatspräsident und Premierminister entschlossen zu sein, die Verwandlung fortzusetzen.
Ende Oktober starben zwei Jugendliche unter Umständen, die die Justiz noch nicht abschließend geklärt hat. Eines jedoch ist sicher: Die beiden 15- und 17-jährigen zogen tödliche Gefahr einer eventuellen Polizeikontrolle vor. Das spricht Bände über die Beziehungen der Polizei zur Jugend, insbesondere zu der in den Cités. Die beiden Jugendlichen wurden von von Anfang an nicht etwa als Opfer dargestellt, sondern als potenzielle Täter.
Vor wenigen Wochen ließ Innenminister Nicolas Sarkozy, der ungeduldige Kandidat für die Präsidentschaftswahl 2007, seine Absicht durchblicken, die Diskussion über Immigration und Unsicherheit wieder aufleben zu lassen – zwei Bereiche, die er offensichtlich als untrennbar miteinander verbunden ansieht. Der Minister hielt Wort. Wo sein Vorgänger im Amt, Jean-Pierre Chevènement, noch von „ungezähmten Bengeln“ sprach, redet Sarkozy von „Pack“.
Davon jedoch fühlten sich nicht ein paar Drogenhändler verunglimpft. Die gesamte Bevölkerung der Cités verwahrt sich gegen diese Kränkung. Aber nicht mit Gewalt: Die Bewohner vieler Vororte gingen im Gegenteil mit großer Ruhe auf die Straßen ihrer Stadtviertel, um den Dialog zu suchen und sowohl ein Ende der Gewalttaten als auch der provozierenden Worte und der Repressionspolitik zu fordern. Um Respekt und einen echten Sozialplan zu verlangen.
Die Situation in Frankreich bringt ein tiefer gehendes Unbehagen zum Ausdruck. Seit drei Jahrzehnten konzentrieren sich soziale Probleme, Ausgrenzung, Ungewissheit und Rückzug der öffentlichen Dienstleistungen in bestimmten Vorstädten. Im Departement Seine-Saint-Denis, so erinnern die Gewerkschaften, beträgt die Arbeitslosenquote 14, bei den Jugendlichen teilweise bis zu 40 Prozent. 45.000 Menschen überleben nur mit dem Existenzminimum. Sarkozy, der Innenminister und Vorsitzende der regierenden UMP, ist zugleich aber auch Präsident des Generalrats des reichsten französischen Departements Hauts-de-Seine und stellvertretender Bürgermeister der äußerst wohlhabenden Gemeinde Neuilly, die allen gesetzlichen Vorschriften zum Trotz lediglich 2,6 Prozent Sozialwohnungen besitzt.
Die Forderungen nach wirtschaftlicher Neuorientierung und Rehabilitierung einer Sozialpolitik, die diesen Namen auch verdient, wurde sowohl an den Urnen als auch bei zahlreichen Demonstrationen zum Ausdruck gebracht. Die Regierung antwortet bis heute mit Arroganz, Missachtung, Repression und Kriminalisierung des gewerkschaftlichen Kampfes. Sie intensiviert die Verunsicherung der Arbeitnehmerschaft und die Schuldkomplexe von Arbeitslosen.
Die Erben der Immigranten, die in Frankreich geboren und Franzosen sind, deren Väter Arbeiter in der Großindustrie waren und die heute unter der Arbeitslosigkeit leiden, zweifeln an der Ernsthaftigkeit des republikanischen Versprechens von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Ihr Alltag besteht aus Diskriminierungen, Rassismus, stigmatisierenden und abwertenden Worten und Blicken – von der Arbeitssuche bis zum Einlass in die Diskothek.
Das hängt auch zusammen mit der Auflösung eines Teils des Sozialgefüges der Vorstädte in den beiden vergangenen Jahrzehnten – und mit dem schrittweisen Verschwinden politischer Organisationen und Aktivisten, die tätiges Miteinander organisierten. Die Rechte hat in den vergangenen Jahren die Subventionen für Vereine im kulturellen, sozialen, schulischen und sportlichen Bereich gekürzt, in denen sich Jugendliche engagieren und die häufig eine letzte Zuflucht darstellen.
Aber auch die Linke muss sich Fragen über die Folgen ihrer zumindest teilweisen Abkehr von der Realität der Bevölkerung stellen. Das gilt besonders für die Immigrationsproblematik. 1983 hatten junge Menschen aus den Vorstädten von Lyon einen „Marsch für die Gleichheit“ ins Leben gerufen, der Jugendliche aus allen französischen Cités zusammenbrachte. Aber die damalige linke Regierung wollte nicht ernsthaft darauf eingehen – und bestätigte damit de facto das Gefühl, dass derartige Bewegungen keinen Sinn mehr haben. Eine politische Organisation mit einem echten wirtschaftlichen und sozialen Programm ist dringend erforderlich. Dabei müsste es um kulturelle Anerkennung und Förderung der Gleichheit gehen.
Die derzeitige Regierung zumindest hat sich für einen anderen Weg entschieden: Sie schürt das Feuer. Dafür stehen der Einsatz von militärischen Einheiten zur „Wiederherstellung der republikanischen Ordnung“, die vielen Schnellverfahren und Ausweisungen von Jugendlichen, die in Frankreich geboren sind, sowie der erneute Versuch, die soziale Frage zu ethnisieren. Wie sonst ist das Fehlen jedweder öffentlichen Entschuldigung zu verstehen, als während des Ramadans eine Tränengasgranate in eine Moschee flog? Was sonst lässt sich hinter der Exhumierung eines Gesetzes aus dem Jahre 1955 zur Ausrufung des „Notstands“ vermuten, das während des algerischen Unabhängigkeitskrieges erlassen wurde?
Wie eine nationale Version der demütigenden George-W.-Bush-Leier vom „sie oder wir“ zielt dieser Versuch einer Spaltung der Gesellschaft darauf ab, Furcht und Schrecken zu nähren. Bürger sollen nach Kriterien der Herkunft oder der Religion von Bürgern getrennt werden. Das soll die Gesellschaft bis hin zur Aporie deprimieren und Resignation schüren – um einen gemeinsamen Kampf für Gleichheit und Respekt zu verhindern und Freiheitsrechte abzubauen.
Aber es liegt in der Natur sozialer Bewegungen, dass sie auch auf mögliche Auswege aus der Krise hinweisen. Nicht nur durch den deutlichen Hinweis auf die dringenden sozialen Erfordernisse – sondern auch indem sie die unumgehbare Notwendigkeit betonen, wieder gemeinsam politisch zu handeln. Mit der Unkenntnis aufzuräumen. Vorhandenes gegenseitiges Misstrauen abzubauen zwischen urbanen intellektuellen Eliten, die sich als Globalisierungsgegner verstehen, häufig aber taub sind für die nahe liegende Realität in den Arbeitervierteln und den Problemen der Jugend in den Banlieues, der alle vorhandenen politischen Organisationen längst den Rücken gekehrt haben.
Demokratie setzt Anerkennung voraus – die Anerkennung von Individuen als Akteure und Bürger. Sie erfordert den Dialog, ermuntert zur gemeinsamen Neufindung von sozialen Konfliktlinien, um eine Perspektive für eine echte soziale Gerechtigkeit zu eröffnen. ISABELLE AVRAN
Übersetzung: Brigitte Schmidt-Dethlefsen