Eine Ohrfeige für den Kanzler

■ Vor 25 Jahren wurde der damalige Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger (CDU) in West-Berlin wegen seiner NS-Vergangenheit von Beate Klarsfeld geohrfeigt

Der Bundeskanzler wird in aller Öffentlichkeit geohrfeigt – das hatte es bis dahin in der Bundesrepublik noch nicht gegeben. Möglich wurde das Ende 1968 in West- Berlin, als die Studentenbewegung ihren Höhepunkt hatte.

CDU-Bundesparteitag 1968 in der Kongreßhalle im Tiergarten. Am Vormittag des 7. November dringt eine 29jährige, unauffällige Frau bis zum Vorstandstisch vor. Sie erscheint dem Ordner vertrauenswürdig, obwohl sie nur einen ungültigen Presseausweis des französischen Rundfunks vorweisen kann. Mit den Worten „Ich möchte nur mal durch“ gelangt sie auf das Podium und schlägt dem Parteivorsitzenden und Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger blitzschnell ins Gesicht, so schnell, daß es die meisten Anwesenden im Saal zunächst überhaupt nicht mitbekommen.

Auch Kiesinger, den der Schlag auf das Auge traf, drehte sich nur verwundert um. Dann wurde ihm eine Sonnenbrille gereicht. Nachdem sich zahlreiche Saaldiener und Sicherheitsbeamte sofort auf die Frau gestürzt hatten, wurde sie in Handschellen abgeführt und noch am selben Abend in einem Schnellgerichtsverfahren vom Amtsgericht Berlin-Tiergarten wegen „öffentlicher vorsätzlicher Beleidigung und Mißhandlung des Bundeskanzlers“ zu einer einjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Die Strafe wurde 1969 auf vier Monate mit Bewährung herabgesetzt.

Das Gericht wollte mit seinem ersten Urteil nach eigener Aussage die Öffentlichkeit wachrufen und daran erinnern, daß Deutschland schon einmal Schauplatz gewaltsamer politischer Auseinandersetzungen war und „die Republik es nicht verstanden hatte, dem Einhalt zu gebieten“. Deshalb müsse hart durchgegriffen werden.

Die Frau war die damals 29jährige Beate Klarsfeld, in Berlin geboren und in Paris mit einem französischen Rechtsanwalt verheiratet, dessen Vater in Auschwitz von den Nazis umgebracht wurde. Bereits seit zwei Jahren hatte Frau Klarsfeld, seit 1963 SPD-Mitglied, Kiesinger wegen dessen NS-Vergangenheit verfolgt und auch öffentlich beschimpft, in Paris und auch im Bundestag. „Es muß Deutsche geben, die nicht einfach nur Gras wachsen lassen und alles unter den Teppich kehren“, sagte die Frau zur Begründung ihres Handelns. Bereits ein halbes Jahr zuvor hatte sie in der Technischen Universität Berlin angekündigt, Kiesinger dafür zu ohrfeigen. Nun sei sie „stolz darauf, das Versprechen gehalten zu haben“.

Bereits sieben Stunden nach der Ohrfeige wurde das gerichtliche Schnellverfahren gegen Beate Klarsfeld eröffnet. Ihr Anwalt war der damals in den vorderen Reihen der rebellischen Studenten stehende und später als 2.-Juni- Mitglied verurteilte Horst Mahler. Er forderte vergeblich die Vorladung Kiesingers als Zeuge. Fast eine Stunde lang stritt das Gericht zu Beginn der Verhandlung mit dem Verteidiger über seinen Anzug. Mahler war ohne die vorgeschriebene Anwaltsrobe und die weiße Krawatte erschienen.

Dann aber kam das Gericht zur Sache und verhängte die überraschend drakonische Strafe. Mahler wies danach den Amtsrichter darauf hin, daß ein Mann, der den Studentenführer Rudi Dutschke in der Berliner Gedächtniskirche mit einem Stock den Kopf blutig geschlagen hatte, mit einer Geldstrafe von 290 Mark davongekommen sei. Beate Klarsfeld meinte zu dem Schnellverfahren: „Ein Schnellgericht während der Nazizeit hat nicht anders sein können.“ In ihrem Schlußwort blieb sie unerbitterlich: „Wenn ich Kiesinger geohrfeigt habe, dann habe ich es gut getan.“

In späteren Jahren machte sie noch mit anderen Aktionen auf sich und ihre Motive aufmerksam und spielte mit ihrem Mann eine wichtige Rolle bei der Suche nach dem KZ-Arzt Josef Mengele und dem Gestapochef von Lyon, Klaus Barbie. Wilfried Mommert (dpa)